Wenn ich die Ausführungen eines Herrn Gujer neben die Auslassungen eines Bischof Bätzing stelle, dann kann ich dem alten Wort von Eugen Rosenstock-Huessy nur zustimmen, dass nämlich «die Saat des Christentums … jetzt aber in weltlichen Lebensformen ebenso reichlich wie in den Kirchenbänken» keimt.
Während der Chefredaktor der NZZ offen gesteht, dass Vielfalt «längst ein Synonym für Chaos» sei und eine «relativierende und beschönigende Geisteshaltung» aus Deutschland «den Wühltisch unter den Nationen» zu machen droht, «wo sich jeder aussucht, was ihm passt», verknüpft der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, mahnende deutsche Stimmen reflexartig mit «völkischem Nationalismus».
Des Elends Kern sieht Eric Gujer in einer modernen individualistischen Ideologie, die den einzelnen und seine Freiheiten über die Gesellschaft und deren Bedingungen fürs Zusammenleben stellt. Wenn man eine «Vielfalt absolut setzt» und die «Traumwelt des Diversity-Marketings» höher gewichtet als die «Funktionsfähigkeit des Staates und das Sicherheitsgefühl der Bürger», dann «mündet die deutsche Migrationspolitik tatsächlich in der Selbstaufgabe».
Nichts anderes aber bedeuten Stellungnahmen von Kirchenvertretern, die an hehren Idealen festhalten, dann aber angesichts einer gegenläufigen Wirklichkeit nicht über ein hilfloses Achselzucken hinauskommen. «Für das, was in Solingen geschehen ist, fehlen schlicht die Worte», gesteht ein Herr Bätzing.
Wahrlich: «Sie hören nicht, was wir hier schrein, ihr Schweigen schnürt uns die Kehlen ein», heißt es in einem neuen Protestlied. Die christlichen Stimmen eines Peter Hahne oder Martin Michaelis dürfen nicht die fast einzigen öffentlich vernehmbaren bleiben, die Not und Irrsinn laut werden lassen.
Denn die Freiheit dazu steht einem jeden offen. Im Jakobusbrief findet sich folgendes prächtige Wort:
«Redet so und handelt so als Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.» Jakobus 2, Vers 12
Welche Art von Freiheit ist gemeint? Dem Zusammenhang des Wortes nach ist sie kein durch Gebote und Verbote eingegrenzter Raum, sondern die im Glauben an den Erlöser zugesprochene und damit verantwortlich machende Sphäre. Es ist keine Freiheit einer − laut Gujer − «ungehinderten Entfaltung … ohne Rücksicht auf andere», und auch keine, die von vornherein nach den «Ansprüchen der Gesellschaft» fragt.
Jenseits von Kategorien wie Beliebigkeit oder Beschränkung, weit vor ihnen und über sie hinaus, gibt es den Menschen, der sich vor seinen Gott gestellt weiß und dort aufatmet − weil ihm vergeben ist, weil er sich liebevoll durchschaut weiß, weil er sich in Wort und Wahrheit neugegründet erlebt.
«Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei» − wirklich im Sinne von «nach dem ganzen Sein» (griechisch «ontos» − «seinsmäßig»). Johannes 8,36
Die Fragen nach Beliebigkeit und Begrenzung stellen sich dann auf dem Rückweg, nach gemachter Erfahrung. Sämtliche Briefe des Neuen Testaments leiten hier zu verantwortlicher Gestaltung an und beantworten damit Analysen von Unfreiheit ebenso wie sie ideologische Verklemmt- und Beklommenheiten entgrenzen.
«Gesetz der Freiheit», das ist das immer mitlaufende Gespür dafür, ob ich mich von irgendetwas oder irgendjemandem gefangennehmen lasse. Man kann es auch das erneuerte Gewissen nennen.
************
Wort zum Sonntag vom 25. August 2024: Das Fanal von Solingen
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
Kommentare