Über die Nachrichten der letzten Tage muss ich mich nicht weiter auslassen. Sie sind bedrängend genug. Hilfreicher ist wohl, auf den Umgang damit zu schauen. Was machen sie mit einem, und was machen wir selber mit ihnen? Das hat mich aufs heutige Thema geführt: dem Beten.
Was ist es ums Beten? Wie und wo fängt es an? Grund genug hätte man ja in dieser Zeit. Aber das «Image» dieser Zwiesprache mit Gott ist nicht das beste: Den einen erscheint es als eine Art Letzter Hilfe, wenn es offenbar gar nicht mehr anders geht und man sich Schwäche und Ohnmacht definitiv eingestehen muss, anderen ist es ein spiritueller Weg nach innen zu ihrem ohnehin göttlichen Wesenskern; Dritten wiederum eine blosse Reminiszenz an kindliches Wunschdenken.
Man könnte nun Argumente und Gegenargumente austauschen, sie abwägen, die einen verwerfen, die anderen weiterbewegen – und bliebe in den allen der Zuschauer, der sich seine modernen Berührungsängste kultiviert, sprich: sich «sein Urteil bilden», aber selber bitte immer schön draussen bleiben möchte.
Einen anderen Weg geht katholische Theologe Karl Rahner in seinem Heftchen «Von der Not und dem Segen des Gebets», erstmals erschienen 1958. Erst kürzlich wurde ich darauf aufmerksam und möchte hier seine Gedanken aus dem ersten Kapitel nachzeichnen, der «Öffnung des Herzens».
Manche Dinge seien angeblich wichtig, weil unvermeidlich, anderes hingegen sei tatsächlich wichtig, könne aber «sehr leicht vermieden und vergessen werden». Zu Letzterem zählt er das freimütige Beten. Das sei leider manchem verschüttet worden «durch die Bitterkeiten und die Freuden des Lebens, so wie er vielleicht einmal einer reinen Liebe fähig war».
Das Gebet sinkt dann herab auf die Stufe einer amtlichen Erledigung, wo man «etwas zu bezahlen oder etwas zu erhalten» hat. Man braucht etwas von Gott oder will es sich mit ihm nicht ganz verderben; wer weiß schon, ob ... – Aber Beten als ein «Öffnen des Herzens»?
Dafür sind wir, wie Rahner darlegt, viel zu beschäftigt und zu sehr abgelenkt und betreiben so doch nur «eine ewige hastige und verzweifelte Flucht». Aber «plötzlich merkt der Mensch doch wieder, daß er gar nicht fortgekommen ist». Er fühlt, es «sei nichts geschehen» und «eigentlich alles schon vorbei». Dass es auch anders, besser, sein könnte, gehört ihm inzwischen zu den «Illusionen des Lebens», die man «nur noch ein bißchen verwundert und ein wenig bitter belächelt».
In diesem Zustand der «chronischen Verzweiflung» bleiben die Menschen jedoch »ganz beherrscht, sie bleiben ganz normal und alltäglich. Sie benehmen sich, wie alle vernünftigen Menschen sich benehmen.» Anständig halt. Diese Gemengelage verklären sich manche zu einem existentiellen Heroismus, mit dem sie trotz aller Hoffnungslosigkeit einfach an irgendetwas «dranbleiben».
Der Gläubige ist vor solchen Wegen nicht gefeit, zu allerletzt durch ein blosses Weitermachen in der Äusserlichkeit. Im Gegenteil: Das Christentum sei «für das verlogene Herz des Menschen die beste Tarnung des Unglaubens vor sich selbst, die beste Fassade, die das verschüttete Herz verbirgt». – Wie also weiter?
Der erste Schritt, schreibt Rahner, sei das Standhalten: sich verabschieden von einem Gott der irdischen Rückversicherung, einem Glücksbringer-Gott. Es verhalte sich gerade anders herum: Die eigene Leere ist bereits die ausgestreckte Hand des lebendigen Gottes. «Es werden dir nur die Ausgänge in die Endlichkeit verschüttet und die Wege ins wirklich Ausweglose. Erschrick nicht!»
Damit sei der zweite Schritt schon eingeleitet: jenes «Innewerden, (...) daß du gar nicht fällst». Auf diese Weise leitet sich eine Begegnung mit Gott selber ein, mit Dem, «der alles ist und darum so aussieht, als wäre Er nichts». Diese Begegnung – so Rahner – führt in «die Ruhe; die Stille, die nicht mehr flieht», und in den Glauben, «daß Er ist, da ist, und wir sein». Geradezu poetisch umschreibt das der Autor als ein «Innewerden des Aufganges Gottes im Untergang des [bislang widerstrebenden] Menschen».
Wie macht man das? fragt Rahner zurück. Wenn einer von sich sagt, das liegt ihm einfach nicht, er sei nicht der Typ dafür, ihm fehle da einfach der Glaube? Rahner bringt hier die wunderbare Wendung von einer «Freiheit des Könnens».
«Kümmere dich nicht um deine Angst, die versichert sein will, bevor sie losläßt, bevor sie betet. Wenn du meinst, dein Herz könne nicht beten, dann bete mit dem Mund.»
Rahner empfiehlt, sich nicht gar so viele Gedanken zu machen und gleichsam auf gut Glück hin tun, als täte man. Üblicherweise führt das ins Heucheln, an dieser Stelle aber in ein seliges Trotzdem. Biblisch vertieft wird dieser Gedanke in Markus 11,24:
«Alles, was ihr betet und bittet, glaubt nur, dass ihr’s empfangt, so wird’s euch zuteilwerden.»
Denn in jedem «Ich kann nicht» stecke ein verschüttetes «Aber eigentlich ...», so Rahner sinngemäss. Darum fragt er:
«Ist es unredlich, so zu tun mit dem Leib, wenn das Herz sich sehnt, zu können, was es vermeintlich noch nicht vermag?»
Eine liebenswürdigere Einladung zum Beten kenne ich nicht.
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Wort zum Sonntag vom 22. Oktober 2023: Inspiriert zum Leben
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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