Die letzte Ehre möchte man dem Verstorbenen erweisen und sich würdevoll von ihm, von ihr verabschieden. Auf welche Weise das geschieht, das ist äusserlich recht unterschiedlich; bei näherem Betrachten rückt es aber recht nah aneinander, was wir hier als angemessen empfinden, uns vorstellen und vollziehen.
Die Schar mit der Asche, die unter den Baum im Friedwald gestreut wird, trennt gar nicht so viel von der kleinen Gemeinschaft um den hölzernen Sarg auf dem örtlichen Gottesacker.
Still geht es zu, dem Leben des Menschen gedenkend, den man gerade verabschiedet. Erinnerungen werden benannt oder steigen unwillkürlich in den Teilnehmern auf, Bilder für ein neues weiteres Leben, vielleicht sogar ein Wiedersehen, treten vor die Augen oder werden in irgendeiner Weise dargestellt. Am Ende der Gedenkfeier steht ein Schweigen, in das sich Familie und Freunde ergeben. Wer es wie füllt? Gott weiss es, er «sieht die Herzen an».
Als Pfarrer habe ich schon viele Dutzend Beerdigungen durchgeführt, mit und ohne Gottesdiensten. «Abdankungen» werden diese kirchlichen Feiern unter anderem genannt. Das Wort soll, wie die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz schreibt, einen Dank für das Leben des Verstorbenen ausdrücken, hätte damit also nichts mit einem «Abdanken» zu tun. Wie auch immer – wenn der Trauergottesdienst zur Abschiedsfeier gerät, dann wurde dem Menschen eine letzte Ehre erwiesen.
Viel wird gelästert über Beerdigungsreden und -predigten: dass ja immer nur gute Menschen stürben und jeder dann noch irgendwie seine frommen Worte abbekäme. Nun, diese Einschätzungen – so sie denn zutreffen – verkennen zweierlei: zum einen, dass es niemandem ansteht, das Leben eines anderen zu bewerten, zuallerletzt dem Pfarrer, und zum anderen, dass Bibelworte (und die sind wohl mit den «frommen» gemeint) nie und nimmer zu einem Zuckerguss geraten dürfen.
Gerade angesichts des Todes geht es nicht um Religion, sondern um Evangelium; nicht um Riten und Sprüche zur Hebung von Gefühl, Moral und transzendentem Bewusstsein, sondern um Ausblick, Getragensein und Weite für verwirrte Gefühle und ein nur allzu brachliegendes Denken.
Eine bestimmte Tatsache legt sich mir dabei jedes Mal nahe und überrascht mich bei jedem Lebensrückblick aufs neue: Jedes Menschenleben verkörpert eine biblische Wahrheit. Das erscheint mir geradezu als ein welt-immanentes Evangelium.
Ein jeder hat anders gelebt, und die Biografien gleichen einander äusserlich denkbar wenig. Was sie gemeinsam haben, erschliesst sich vielmehr indirekt, wenn wir in den Gesprächen zusammentragen und nebeneinander stellen, was den Verstorbenen ausgemacht hat. Es sind immer einige wenige Fäden, die sich durch das ganze Leben hindurchgezogen haben, und jeder dieser Fäden findet seinen «Anknüpfungspunkt» in einem Bibelwort.
«Oh, da haben Sie aber ein passendes Wort herausgesucht!» – Nein, hab ich nicht. Es war und ist lediglich die Rück-Verlängerung dessen, was in jenem Leben anschaulich geworden ist. Inkarnation in der / in die Breite, möchte man es unter Theologen nennen; Verherrlichung Gottes in seinen Geschöpfen, nennt es der Glaube.
- Die Familie eines Geistheilers wünscht eine kirchliche Bestattung. – Ja, würdigen wir das Leben von diesem Gottes-Sucher.
- Der Weltenbummler war die letzten Jahre recht ruhig geworden. – Erkennen wir es an, dass wir neben der Weite auch die Tiefe brauchen.
- Sie war die Seele von einem Familienmenschen, bis zuletzt. – Lassen wir Ihn nun ebenso für sie sorgen wie für uns selbst.
- Ruhelos ist er durchs Leben gegangen und dann auf einmal gestorben. – Unser Herz ist unruhig, ja. Jetzt hat er Frieden bei Dem gefunden, der ihn auch uns anbietet.
- So rasch und so jung mußte sie sterben! – Gott wohnt nicht nur in der «frommen Seele», sondern Er sucht unser «zerschlagenes Gemüt».
Immer wieder taucht die Rede davon auf, der Verstorbene würde ja in unserer Erinnerung weiterleben. In manchen Todesanzeigen kommt einem das geradezu als eine banal säkularisierte Version von Auferstehung entgegen. Und doch hat auch das sein Körnchen Wahrheit, und zwar im oben beschriebenen Sinne:
Erinnerung selber ist zunächst einmal nur nach hinten gerichtet. Man bewahrt Vergangenes, das man als wertvoll erachtet. Das reicht vom «ehrenden Gedenken» an einen Mitarbeiter bis hin zum liebevoll gepflegten Grab. Aber allein nach hinten gerichtet, bleibt Erinnerung tot. Sie wird dann lebendig, wenn sie inspiriert. Inspiration ist das Produkt aus Erinnerung mal Geist.
Das gelebte Leben, auf das wir jeweils zurückschauen, ist Erinnerung. Dieses Leben im Bibelwort, in nur einem Aspekt daraus, wiederzufinden, ist der Keim von Inspiration. Wenn er aufgeht, dann lebt die Verstorbene «weiter», jetzt aber nicht bloss in Gedanken an Vergangenes, sondern ihr Leben findet sich wieder in Dem Wort, das auf Seine Weise in unser eigenes spricht.
«Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.» 1. Mose 1, Vers 27 - Auch wenn wir das manchmal erst nachträglich wahrnehmen.
Soviel Predigt musste sein für diesmal. Gott segne Sie.
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Wort zum Sonntag vom 15. Oktober 2023: Meinung und Mensch
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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