Das wäre vor lauter Grusel-Klamauk fast noch untergegangen: dass wir in der vergangenen Woche den Reformationstag begangen haben, eigentlich. Ausrichtung statt Ablenkung. Was brauchen Kirche und Gesellschaft zu ihrer jeweiligen Gesundung, eigentlich?
Der 31. Oktober des Jahres 1517 sei es gewesen, als ein Pater namens Martin Luther 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg geheftet habe. Er legte darin den Finger in die Wunden von Kirche und Gesellschaft und läutete mit ihnen das ein, was spätere Historiker die Deutsche Revolution nannten: die sogenannte Reformation.
Was wäre, was ist heute vonnöten? Welche kirchlichen Irrwege sind zu beenden? Welches neue Verhalten ist einzuüben für eine neue und bessere Zeit? − Ich stelle meinerseits zwei Thesen «in den Raum»:
- «Die Kirchenleute fangen wieder an, auf die Menschen zu hören.»
- «Die Pfarrer sind nicht länger Sprachrohr für Zeitgeist und Politik, sondern für die Wahrheit.»
«Durch Deutschland muss ein Ruck gehen», forderte der frühere Bundespräsident Herzog in seiner Rede vom April 1997. Und es geht auch ein Ruck durch unsere Länder. Aber es ist eher einer wie beim Anzurren einer Zwangsjacke.
- Jeder Zweite traut sich hierzulande nicht mehr, frei seine Meinung zu sagen.
- In Frankreich werden jetzt die Kritiker von der blasphemischen Eröffnungsfeier der Olympiade verhaftet.
- In Deutschland gilt es seit vergangenen Freitag, 1. November, als verboten, einen als Frau verkleideten Mann als Mann anzusprechen, wenn er selber das nicht möchte.
Über die berüchtigten Mundlappen wurde bereits das Denken zurückgefahren. Aber das darf sich ja nicht zur Gewohnheit verfestigen. Ein Leben mit permanent angezogener Bremse kann nicht das sein, was wir unseren Kindern und Enkeln weitergeben möchten.
Den Geist dieser Jahre hat der ehemalige Führer des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, unnachahmlich auf den Punkt gebracht mit seinem berühmten Spruch: «Diese Regeln dürfen nie hinterfragt werden.» Mund halten, Lappen drüber, marsch-marsch! So habe der folgsame Staatsbürger zu funktionieren.
Der Kirchenmensch nicht weniger. Um die Sache konkret zu machen: Gottesdienste ausfallen lassen, experimentelle Genspritzen zur Nächstenliebe erklären und alte Menschen einen einsamen Tod sterben lassen − das war ein Tiefpunkt von 2000 Jahren Kirchengeschichte. Man sollte nicht meinen, dass an ihrem Anfang eine Auferstehung von den Toten gestanden hätte. Anbiederung, Verrat und geistige Korruption haben unsere Kirchen durchzogen, und dieser Geist ist immer noch nicht ausgetrieben.
Kein kritisches Wort aus den Kirchenleitungen zu blasphemischen Opernaufführungen oder gegen die Sexualisierung von Kleinkindern, gegen eine todbringende Masseneinwanderung und so fort. − Wie hat es so weit kommen können? Weil tatsächlich «die Regeln» nicht «hinterfragt» werden. Aber eine solche Kirche braucht kein Mensch.
Was wir brauchen, ist wahrlich eine «zweite Reformation», ein wirklicher Ruck durch Staat, Gesellschaft und Kirchen. Ich betone die Kirchen weniger darum, weil ich selber Pfarrer bin, sondern weil sie das eigentliche Gegenüber für die Regierenden wären. Wir brauchen eine Kirche, die mit einer eigenen Stimme auftritt; die genau hinschaut und hinhört, und zwar dreidimensional:
- auf das, was die Herrschenden proklamieren,
- auf das, was das für die Menschen bedeuten würde, und
- auf die Stimme von Gewissen, Wort und Geist.
Eugen Rosenstock-Huessy hat dafür das prächtige Wort von der «hörenden Kirche» geprägt. Wer ist das? Das ist jeder Gläubige, der sich für sein Umfeld mitverantwortlich weiß und die Fragen und Nöte um sich herum mitbekommt; je amtlicher die Stellung und der Dienst, desto klarer ist diese Verantwortung wahrzunehmen. Wie Moralismus und Prostitution ineinander übergehen, so auch Verantwortung und Dienst.
«Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an», sagt Jesus. «Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.» Markus 10,42.43
«So sei es unter euch nicht!» Es ist zwar ständig so, aber das ist nicht euer, ist nicht unser Weg! Keine Kirche, keine Pfarrerschaft, kein Gläubiger dient dem größeren Ganzen, wenn er nur pflichtgehorsamst dessen Gebote und Verordnungen befolgt und sich so seine Streicheleinheiten für ein schwaches Ich abholt. Sondern wir dienen dem Ganzen von Gesellschaft, Staat und Volk dadurch, dass wir
1. genau hinschauen, was abgeht;
2. gut hinhören, was das mit sich bringt oder bringen kann;
3. wohl bedenken, was es dazu nun aus eigenem Glauben und Denken zu sagen und zu tun gibt.
Wo das nicht geschieht, könnte man Leuten vom Schlage eines Herrn Wieler auch gleich den Bischofshut aufsetzen. Wo es aber geschieht, dort sorgen wir für ein Aufatmen von bedrängten Seelen und für masken- und schablonenfreies Denken in unfreier Gesellschaft.
Wir machen uns damit keine Freunde bei Herrschern der Ungerechtigkeit. Aber das ist auch nicht unser Auftrag. Sondern wir sollen jenen dienen, die ansonsten unter die Räuber fallen würden, und den Gott bezeugen, der Leben will und Leben schafft.
Wollen wir nach oben buckeln oder wollen wir uns nach unten hin beugen? Der Segen liegt nur auf einem dieser beiden Wege.
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Wort zum Sonntag vom 27. Oktober 2024: Das freie Wort ist stärker
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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