Ein Blick in die Veranstaltungskalender ist immer auch ein Blick auf den Zeitgeist. Spiegelbildlich zeigt er die Nöte und Befindlichkeiten von heute. Harmonie durch Mantra-Singen, in Gruppen seine Visionen entwickeln, die lebendige Verbindung mit dem «Paradies in dir» suchen oder sich in einer Klang-Triade ergehen, «frei und wild» − alle suchen sie einen Ruhepol im Getriebe der Tage.
Wir wollen uns zurücknehmen. Wir müssen uns zurücknehmen. Es wird einfach zuviel; den einen setzt die dauerhafte Angst-Propaganda zu, den anderen ihr Wissen um deren Ursachen. Und beide kämpfen sie mit den Folgen, existentiell und psychisch. Nicht, dass das etwas Neues wäre. Es ist genauso erschreckend wie damals, als ein tapferer Schweizer mitten im Krieg aus Berlin das folgende Stimmungsbild gezeichnet hatte:
«Solange in Deutschland noch geschimpft wird, ist es nicht schlimm», berichtet der Schweizer Konrad Warner Anfang der 40er Jahre von einem Gespräch in Berlin:
«Schimpfen ist meist ein Zeichen von Ohnmacht. Viel ärger sind die anderen dran, die alles in sich hineinfressen müssen, die nicht wagen dürfen, ein lautes Wort zu sprechen, und die durch ihre Einsicht in die wahren Verhältnisse der Welt wissen können, was geschehen wird. Sie leiden schon Jahre vor dem Zusammenbruch, doch sie müssen Rücksicht nehmen, sie haben Stellung, Frau und Kind, die sie erhalten müssen.»
Es stellt sich also wieder die große Frage, was für einen selber dran ist. Dem näher zu kommen, dazu sollen Zeiten der Stille und der Einkehr dienen. Aber was ist dann nach der Stille, nach der Einkehr? Das bloße Pendeln zwischen hellen Stunden und grauem Alltag, das kann’s ja nicht sein. Das brächte nur die Illusion von Aktivität und Bewegung, Karrussell-Bewegung.
Wir sollten genauer hinschauen und Wege finden, um mitten im Alltag einen Platz einzunehmen, der uns und unserer Umgebung Atem verschafft. Mark Twain weist schon mal die Richtung:
«Die beiden wichtigsten Tage deines Lebens sind der Tag, an dem du geboren wurdest, und der Tag, an dem du herausgefunden hast, wozu.»
Der allgemeine Spruch «Ich sollte mein Leben ändern» reicht dazu nicht. Er sollte anders lauten: «Du musst dein Ändern leben.» Wo genau? Wie genau? Zwei verschiedene Antworten legen sich mir dafür nahe; im besseren Fall reihen sie sich aneinander:
- Welche Not bedrängt mich am meisten?
In den Scheußlichkeiten unserer Tage gibt es ein bis zwei Themen, bei denen ich mir gleichzeitig denke: «Eigentlich wäre dran, dass …». Welche Themen sind das? Welche Schritte wären das, «eigentlich»?
- Was davon legt sich mir im Gebet aufs Herz?
Schöpfungsgemäße Intuition ist das eine. Hören aus dem und auf den Heiligen Geist ist das andere. Das muss einander nicht widersprechen. Es ist eher wie bei einer Goldader: Steckt das Edle noch quer im Gestein oder ist es bereits gereinigt und widerstrahlt das Eine Licht?
«Du musst auf die Dinge schauen, die dir wirklich wichtig sind», riet ein älterer Herr einer verunsicherten jungen Frau in einem Film, den ich in dieser Woche geschaut habe. «Das passt nicht zu meiner Welt», entgegnete sie. − «Dann musst du die ändern.»
Das klingt nach Aktion und resolutem Auftreten. Muss es aber nicht sein. Hier ist eben das gute Hören gefragt. Ein Thomas Morus, Mitte des 16. Jahrhundert der zweite Mann im Staate England, hatte sich nicht nicht gegen seinen König aufgelehnt, als sich der zum Herrn über die anglikanische Kirche aufgeschwungen hatte. Er hatte nur lautstark geschwiegen, wie mein Kollege Daniel Funk vor kurzem eindrücklich dargelegt hat. Morus war ein gläubiger Mann; er erkannte «die Wahrheit eines Augenblicks, seine Qualität als Zeitpunkt»; er witterte sein «Aroma» (Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit, Seite 14)
Am je eigenen Platz Gutes beitragen und dem Zeitgeist widerstehen, das ist keine Frage vom «Typ», wie man oft hört. Es ist eine Frage des Hörens, des Gehörthabens − aus dem dann sprachgeschichtlich das Wort «gehorchen» wurde.
Es könnte sich also lohnen, auf das Pauluswort aus dem Epheserbrief hinzuhören, wo er den geistlichen Aggregatzustand eines guten Täters beschreibt:
«Wir sind Gottes Schöpfung. Er hat uns in Christus Jesus neu geschaffen, damit wir die guten Taten ausführen, die er für unser Leben vorbereitet hat.» Epheser 2, Vers 10
Das riecht nach Freiheit. Ich renne mir dann nicht mit meinen Idealen den Kopf ein, den lange eingezogenen, sondern stehe so aufrecht, wie es Gnade und Gemeinschaft schenken. Doch dem Zeitpunkt für solche «guten Taten» geht oft erst ein «Vorleiden im Dunkel» voraus.
Das ist aber keine Tatenlosigkeit und kein stumpfes Abwarten wie im obigen Zitat von Konrad Warner. Es ist ein aktives Festhalten gegen den Augenschein, ein Festwerden in einer neuempfangenen «Keimhaltung der Seele» (Rosenstock) − mithin also ein guter eigener Stand. Die Tat geschieht dann zu ihrer Zeit.
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Wort zum Sonntag vom 20. Juli 2025: Kinder, marsch!
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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