Noch sind wir nicht so weit. Aber es schadet nichts, wenn wir bereits etwas vorblättern in der Geschichte. Ihr Wechsel trifft uns dann nicht so unvorbereitet. Immerhin gibt es Vor-Bilder und Muster des Verhaltens und Geschehens, die es uns leichter machen, Perspektiven für die eigene Gegenwart zu gewinnen.
Es war einmal eine andere Zeit, in der die Menschen nicht frei zu reden wagten; in der man für ein unvorsichtiges Wort nächtlichen oder morgendlichen Besuch erwarten durfte und in der genau das gefragt war, was heute wieder mit dem vieldeutigen Wort «Haltung» gemeint ist: Stellung beziehen, Position einnehmen, sich entscheiden, so oder so.
Ernst Friedländer, Stellvertretender Chefredakteur der damals neugegründeten Wochenzeitung «Die Zeit», beschreibt in seiner kleinen Schrift von 1947, «Von der inneren Not», was jene Jahre mit den Menschen gemacht hatten. Weitherum wurde «noch gleichsam gestaltlos gelitten», meinte er, und dass eine nachbebende «lähmende Beklommenheit (…) den Menschen das ruhige freie Atmen verwehrt» (Seite 7).
Das trifft sich mit heutigen Beobachtungen. Drei Viertel der Menschen wagen aus Angst vor Konsequenzen nicht mehr, zu ihrer eigenen Meinung zu stehen, habe eine INSA-Befragung kürzlich ergeben. Ja, man kann ganz leicht «Straftaten begehen, wenn man den gesellschaftlichen Konsens verlässt», wie die designierte neue Justizministerin in Deutschland, Sonja Eichwede, in geradezu jugendlicher Unbekümmertheit verkündet. Und zum Schutz einer «Demokratie» sollen nun wieder ganze Parteien verboten werden.
Was bedeutet das für den einzelnen? Wie leidet er, wie konnte, wie kann er überwinden: für sich selber und durch sein Vorbild auch für andere? Diesen Blickwinkel hatte Ernst Friedländer eingenommen, und unter diesem Aspekt stelle ich hier menschliche Phänomene und Reaktionsweisen nebeneinander; nichts anderes. Man möchte ja aus Geschichte lernen, gerade weil Friedländer meint:
«Die verspätete Einsicht aus den Folgen anstatt der rechtzeitigen aus den Vorzeichen gehört seit langem zu den bedrohlichsten deutschen Mängeln.» (S. 17)
Das herrschende Narrativ und System, die Machteliten, waren gestürzt. Jedes Unrecht «hat seine Zeit», sagt der Prediger, es hält sich nicht auf Dauer. Doch dann tun sich «ganze Trümmerfelder des Willens, der Hoffnung und des Glaubens» auf; «ein Übermaß an Vergangenheit verwehrt den Blick in die Zukunft».
Andererseits müsse man aber «schon Zukunft in sich tragen, um alle Trümmer der Vergangenheit überhaupt aus dem Weg räumen zu können» (S. 9). Wie gewinnt ein Volk, ein Land, nach einer und noch in Not wieder Zukunft? «Wir werden uns nicht gesundschweigen und nicht gesundjammern», sagt Friedländer (S. 9f). Ausblenden und so unbesehen wie möglich an ein Vorher wieder anknüpfen, das geht nicht. Jetzt sei es ja vorbei, hört man nach unseligen C-Zeiten, und statt eine Schuld von anderen anzumahnen müsse man nun wieder nach vorne schauen, klingt es in meinen Ohren.
Friedländer geht einen großen Schritt weiter. «Nebel zu verscheuchen, das ist eine unserer wesentlichsten Aufgaben» (S. 16), und das geschieht so − auch so −, dass wir nach den Menschen Ausschau halten, die in schwerer Zeit gegen die geforderte ungute Haltung eine eigene wahrhaftige bewahrt oder gerade so erst gefunden haben. Wer sind diese Menschen?
Es sind nicht per se alle, die unter dem Unrecht gelitten hatten oder es irgendwie hatten dulden müssen; noch weniger sind es jene, die sich ihre bitteren Erfahrungen nachträglich heroisieren getreu dem damals weitverbreiteten Bonmot: «Und als man ihn dann wiederfand, da war auch er im Widerstand.» Friedländer sucht nach anderen Menschen − nach «Helden».
«Anteil an einem Werte hat nur, wer aus Eigenstem etwas beisteuert, ein bestimmtes Tun oder eine bestimmte Haltung. Aus dem Menschen heraus muß etwas geschehen, nicht nur mit ihm, sonst ist nichts da, wozu wir, ihn wertend, ein Ja oder ein Nein sagen könnten. (…) Auf eine besondere und wahrhaft menschenwürdige Weise steht er über dem, was ihm geschieht.» (S. 18f)
Kurz gesagt: «Von den Besten geht aus, was als Hoffnung in die Zukunft weist.» (S. 19) Unter den Bedingungen einer Tyrannei finden sich Helden kaum je bei den «sagen-haft» Siegreichen, sondern sie seien «meist auch die Stillsten». An ihnen sei [wieder] «zu lernen, daß das Wertvollste aus der Tiefe des persönlichen und unbedingten Gehorsams kommt, ohne Rücksicht auf die Folgen, ohne Rücksicht auf das, was ein Mächtiger fälschlich Ehre oder Schande nennt» (S. 20f); einer, dem «nur der Zweck der Selbsterhaltung an der Macht die Mittel bestimmt» (S. 22).
Ja, Zeiten der Not offenbaren das Schlechteste wie auch das Beste im Menschen, und wer selber dabei untergeht, der legt womöglich einen Grundstein für die Zeit nach ihm. Helden nennt sie Friedländer. Zwischen eingeübter Scheu in unseren Breiten diesem Wort gegenüber und oftmals fettem Pathos jenseits des Teiches liegt die Dimension echter Standhaftigkeit. An ihren Trägern können sich nach einem Zusammenbruch böser Herrschaft ganze Generationen wieder aufrichten.
Es ist jene «Einsicht aus den Vorzeichen» (Friedländer), die mich wieder zu dieser alten kleinen Schrift greifen ließ. Das Ringen von damals war ein Ringen um die Zukunft, also mithin um unsere Gegenwart. Je energischer sich ein System der Unterdrückung gebärdet, desto unsicherer und schwächer ist es, und desto wichtiger erscheint bereits die Frage nach dem «Wie weiter, wenn …?».
Ernst Friedländer umschreibt solche Menschen, die Zukunft vorspuren. Es gibt sie auch in unserer Zeit, und sei es in vordergründigem Scheitern. Sie zu suchen und herauszuheben sei keine «Eitelkeit», sondern erforderlich für «das daseinsnotwendige Mindestmaß an Zuversicht und Vertrauen» (S. 20).
Auf diese Spur autonomen Denkens und Handelns ist grundsätzlich jeder gläubige Christ gesetzt, wenn Paulus mahnt, wir sollten uns die Freiheit in Christus nicht wieder rauben lassen und nicht zurückfallen in fremde Zwänge. Sondern:
«Seid standhaft!» Galater 5, Vers 1
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Wort zum Sonntag vom 27. April 2025: Liederwehen macht Freude
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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