Es reicht nicht, wenn man ihm zeitweise etwas mehr Aufmerksamkeit widmet als den übrigen Geschäftigkeiten, ein paar Voten hört, liest, sieht und es dann wieder beiseite legt wie Büchlein, das man rasch überflogen hat, weil es einem jemand empfohlen hatte.
Gedenken ist mehr. Es heißt, hören, hinschauen, sich öffnen, sich widmen. Auch dafür ist die Zeitspanne begrenzt. Aber sie hat Gehalt. Etwas hatte zu Herz, Seele und Gemüt gesprochen, sie angerührt, sie mit anderem verbunden. Und mit anderen. Nichts eint die Menschen so sehr wie geteilte Stille.
In den vergangenen Tagen waren wir davon weit entfernt. Die «80 Jahre Kriegsende» waren in den deutschsprachigen Medien ein Schaulaufen in polit-ideologischen Richtigkeiten, vermeintlichen, denn ein Ansatz von etwas Erhabenem. Ja, ich schreibe «Erhabenem», denn geteilte Trauer erhebt. Sie erhebt, befriedet, versöhnt.
Wenn sie denn geschehen würde. Stattdessen wurde vielerorts ein «Tag der Befreiung» begangen, da und dort geradezu gefeiert, auch amtlich, wie in Berlin. Er wolle ja schließlich «nicht zu den Verlierern gehören, sondern zu den Siegern», erklärte sogar eine Persönlichkeit aus dem politischen Widerstand.
Ich sehe darin vor allem «eine Verhaltensanpassung an eine extreme Ausnahmesituation, mit dem einzigen Ziel, die eigenen Überlebenschancen zu erhöhen». Zu den Ursachen eines solchen Verhaltens zählten «Wirklichkeitsverzerrung (…) und Kontrollverlust». Bekannt ist das Phänomen unter dem Stichwort Stockholm-Syndrom. Geborgte Identität also.
Gedenken ist das nicht; es sind in die Vergangenheit zurückverschobene Muster aus der verstörenden Gegenwart überlasteter Psychen. Gabriele Baring geht dem nach in ihrem Buch «Die Deutschen und ihre verletzte Identität» (Stuttgart 2007). Auch diese Massen-Flucht bleibt Flucht und ist kein Stillhalten im Trauern, Suchen, Finden, weder jener Vergangenheit noch heutiger Genernationen, noch seiner selbst.
Im Jahr 2007 gab der zweiteilige Fernsehfilm «Die Flucht» Einblicke in damaliges Geschehen. Mit einem Treck versuchen die Angehörigen eines ostpreußischen Gutshofs der Roten Armee zu entkommen. Gefühlslage und Ereignisse jener dramatischen Monate wurden vergleichsweise authentisch wiedergegeben, und der Sender vertiefte es mit Gesprächsrunden, historischen Filmausschnitten und Berichten von Betroffenen.
Ein Anfang von Gedenken. Zahlreiche Briefe von Überlebenden hatten den Regisseur Tilo Hofmann erreicht, «die meisten davon keineswegs revanchistisch. Die Menschen wollen nur die Anerkennung ihrer eigenen Lebensgeschichte, auch wenn sie mit Leid gekoppelt ist».
Bei tiefgreifenden Einschnitten der Geschichte eines Volkes sind diese Schicksale auch nachträglich anzuerkennen. Geschieht dies nicht, steigert sich ein vererbtes Trauma zu einer überschweren Hypothek für die Nachgeborenen, und «solange wir diesen unterschwelligen Selbsthass zulassen, sind wir eine Gefahr für uns und für andere», schreibt die Psychotherapeutin Gabriele Baring (Seite 40).
Anerkennen, zu Wort und Sprache kommen lassen, hinschauen, aushalten: Ein Film oder auch ein Jubiläumstag stoßen das an. Aber damit ist nicht «gedacht». Wenn es stimmt, dass «jede Zeit ihr zentrales Problem angehen [muss], es in einen bestimmten Rhythmus bringen und letztlich durch einen Feiertag erhöhen», dann wäre damit der zweite Stein gesetzt.
Der Buß- und Bettag wurde in Deutschland vor einigen Jahren abgeschafft. Wirtschaftliche Überlegungen kaschierten notdürftig die peinliche Berührtheit durch das Wort «Buße». Und aus dem Volkstrauertag im November ist ein «Erinnern (…) an alle Kriegstoten und die Opfer von Gewaltherrschaft aller Nationen» geworden. Eingeführt wurde er 1922 als Gedenktag für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs.
Was der Unterschied ist zwischen Erinnern und Gedenken? Erinnert wird an ein Thema, ein Motiv, einen Zusammenhang, vielleicht auch an ein Ereignis. Gedacht aber wird der betroffenen Menschen. − Was ist würdiger?
Ich führe nun all diese Gedanken nicht zu Ende und verzichte hier auf alles Aber, Und, Jedoch etc., und zwar des Umfangs wegen, als damit sich das behutsame Tasten nicht in schon wieder ungleich härteres Abwägen verliert.
Warum ich daraus ein Wort zum Sonntag gemacht habe? Weil es wohl richtig ist, dass sich «jede Gemeinschaft eines Tages endgültig über die Grundlagen ihrer Zusammengehörigkeit erklären» muss, will sie sich nicht innerlich aufreiben und zerfallen. Zu diesen Grundlagen gehören mitunter auch Traumata.
Der Mut zu diesem Hinschauen und Stillhalten, zum offenen Fragen − von wem sollte er kommen, wenn nicht von den Menschen, denen selbst das «dürre Tal» zum «Quellgrund» werden kann (Psalm 84,7), wenn sie es mit ihrem Gott betreten und durchschreiten?
Stellvertrender Dienst wäre das. Ist das. Hoffentlich bald, sehr bald.
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Wort zum Sonntag vom 4. Mai 2025: Haltung versus Standhaftigkeit
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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