Alle paar Wochen erreicht mich dasselbe Thema, dieselbe Klage, aus den Reihen derer, die sich nun schon jahrelang dem Zeitgeist widersetzen: dass es bislang nicht sehr viel gebracht habe, dass viele Menschen müde geworden und abgesprungen seien und man selber auch mit dem Gedanken spiele, in einen Alltag zurückzukehren. Der sei zwar alles andere als erfüllend, aber immer noch besser, als sich ständig aufzureiben und sich die eigene Ohnmacht vor Augen zu führen.
Andere erheben sich in ein Dennoch. Man habe schon soviel riskiert, und der Ruf sei ohnehin sozusagen eindeutig geworden, dass es völlig unglaubwürdig wäre, ein altes Leben wieder aufnehmen zu wollen, geschweige denn zu können. Letztlich gebiete es die Selbstachtung, sich nicht unterkriegen zu lassen, auch wenn der innere Abstand zu den Menschen und Dingen um einen herum keineswegs kleiner werde.
Die Frage dahinter lautet in etwa: Soll das alles gewesen sein? Was ist mit meinen größeren Zielen, mit meinem besseren Potential, das ein Alltag, den man kaum verlassen kann, verdeckt und aufzehrt? An vielen Menschen nagen derlei Fragen, ob sie nun zeitkritisch unterwegs oder ihre Lebensgeister an sich noch rege sind. Aber Leben muss doch mehr sein dürfen!
Solche Fragen sind in den letzten Monaten und Jahren dringlicher geworden oder jedenfalls weiter an die Oberfläche gedrungen. Auf eine besonders einfühlsame Art und Weise hat sie der begnadete Seelsorger Peter Lippert aufgenommen, unter anderem in dem 1924 erschienenen Bändchen «Von Seele zu Seele. Briefe an gute Menschen». Einen der dort veröffentlichten Briefe widmet er einem aus der Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten.
Er trägt die Überschrift «Verfehltes Leben?» Ich zeichne seine Gedanken nach und will damit auch auf Lipperts weitgehend unbekannt gebliebene und doch so segensreiche Schriften selber hinweisen, denn christlicher Glaube geschieht immer in der Erkenntnis befreiender Gleichzeitigkeiten: Das Erleben der Früheren ist wesentlich unser eigenes; in den Worten von Jesus spiegelt sich meine eigene Welt.
Tiefe Not will behutsam angesprochen sein. «Jedes Wort des Trostes, der Freude, des Willkomms, rührt ja an brennende Wunden Ihrer Seele», schreibt Lippert; die «Wirklichkeit» war «zu grausam». − Aber: «Nun will ich doch mit Ihnen reden − über eben diese Wirklichkeit», entgegnet Lippert nun mit eigenen Worten. «Denn ich glaube, sie wird nur überwunden, wenn wir ihr voll ins düstre Auge sehen, wenn wir uns vor ihr nicht verstecken.»
Weitherzig knüpft er an die Selbstzweifel seines Gegenübers an und empfindet dessen Verfassung nach. Seine früheren Ideale würden sich in einer «geist- und seelenlosen Tagelöhnerei» verflüchtigen, die «der Seele das Mark aussaugt» und «von lebendiger Tat» abhält. Eine «sinnlose Tretmühle» habe ohnehin verlorene Jahre abgelöst; das Herz ist darüber hart geworden.
Der Seelsorger entgegnet: «Darf ich Sie von dem Schein erlösen, der Sie quält?»
Da ist zum einen die Tatsache, dass der Mann überhaupt einen Alltag hat, über den er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ob er darin nun ersetzlich ist oder nicht. Einmalig, unvertauschar, sei sowieso nur Gott selbst. Ob es aber nicht doch Besseres zu tun, zu leisten gäbe? − «O Sie! Haben Sie eine Ahnung, was gut und was besser ist und wohin Ihre inwendigen Brunnen fließen und ob sie umsonst verrinnen?»
Immer bleibe Wesentliches ungetan, auch im beglückendsten Beruf, und auch aus einem wenig beglückenden können Früchte «hervorwachsen in einer Welt, die wir nicht schauen». Geht es hier doch nur um den äußeren Beruf, um eine vielleicht «falsche Aufschrift auf seinem Leben, weiter nichts!» Die «wirkliche Leistung wird dadurch nicht berührt».
Der «inwendige Beruf» hingegen kann sehr wohl verfehlt werden: durch «die Herzensverhärtung des Menschen», mit der einer an seinem Groll festhält und eine Schuld − eine eigene oder fremde − für dauerhaft bestimmend erklärt und jene «geheime hinterhältige Rachsucht» pflegt.
Aber «jede Schuld kann entwaffnet, kann eingesargt und begraben, kann ausgelöscht und ins Nichts versenkt werden. Und dann ist’s aus mit Ihrer Rache. Das ist die Lehre von der Sündenvergebung, wie sie das Christentum verkündet.»
Wenn dann jemand den Auferstehungsruf «Lazaras, komm heraus» (aus deinem Grab, Johannes 11,43) hört, und «Gott zu Wort kommen» lässt, dann mag jener ermüdend-graue Alltag, diese «Taglöhnerei, (…) wohl fortdauern», aber doch «mit heimlichem und heiligen Sinn». Darum der Aufruf in der Schrift:
«Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!» (aus Hebräer 3)
Den nun folgenden Abschnitt aus diesem Brief hab ich mir schon vor Jahren dick markiert. Lippert zieht darin die Folgerungen aus dem Gesagten:
«Erfüllen Sie das Gebot der Stunde, das Gebot eines jeden Tages, der in Ihr Morgenfenster hineinscheint. (…) Hämmern Sie wohlgemut drauflos mit der lachenden Hartnäckigkeit: Ich will aus meiner Seele und meinem Leben herausholen, soviel ich eben noch kann, auch so noch und trotz allem und allem!
Und was wird so aus Ihrem Leben werden? Welchen Sinn wird es haben? Mein Freund, ich weiß es nicht, und Sie brauchen es auch nicht zu wissen. Gott weiß es. Trauen Sie ihm zu, dass er die bunten Steinchen, die Sie auf sein Geheiß ein ganzes Leben lang herumschleppen, zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden weiß! Das heißt an Gott glauben.»
Leicht werde das Leben damit nicht, fährt er fort, jedoch «nicht mehr vergiftet von Unmut und Bitterkeit» und fähig zu einem «Lebensdienst», auch wenn der sich immer wieder «in Kleinigkeiten und Winzigkeiten erschöpft». Aber der gute Rahmen steht nun.
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Wort zum Sonntag vom 15. Juni 2025: Was heißt da Frieden?
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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