Vor vielen Jahren nahm ich im Tessin an einem Seminar des Bibellesebundes teil. Es ging um «Orientierung in der Lebensmitte». Leitfragen wie «Was hab ich mit welchem Grad an Zufriedenheit erreicht, und wo bin ich unzufrieden? Was ist unerfüllt geblieben?» Die Referenten stellten uns dazu ausgezeichnete Rückfragen; sie begleiten mich bis heute.
Die Teilnehmer waren erwartungsgemäß bunt gemischt. Alle zwar mit einem christlichen Hintergrund, aber bem Alter klafften wir weit auseinander: so von Mitte 30 bis Anfang 50. Die «Mitte des Lebens» macht sich offenbar weniger an Zahlen fest als an Einstellungen und Erlebnissen. Brüche, Unterbrüche, Scheitern, Vorfreude − alles das lädt zu einem Zwischenhalt ein. Den hatten wir uns denn auch gegönnt.
Das Seminar war schlicht aufgebaut. Die beiden Leiterpaare referierten in erstaunlichster Offenheit vor ihren Partnern und dem Plenum. Gruppenarbeit gab es nur wenig, dafür immer wieder Zeiten vom Rückzug, um Anregungen wie diese zu vertiefen:
- Was war dir früher gelungen?
- Worüber kannst du die Zeit vergessen?
- Was würdest du am Ende von deinem Leben bedauern, wenn du es nicht getan hättest?
- Zeichne Linien von deinem Leben über Beruf, Beziehungen, Zeiten des Glücks.
- Mit welchen Menschen bist du am liebsten zusammen?
- Wo hast du deine persönlichen Tankstellen?
Wer stellt sich solche Fragen schon selber? Man empfindet sie allenfalls, aber sie bleiben zumeist doch unausgesprochen. Die Orientierung für mögliches Neues weicht dem bloßen Verlängern einer Gegenwart, mit der man gelernt hat, sich zu arrangieren. Wär schad drum, wenn es dabei bliebe.
Mir selber hatte diese Woche auch gezeigt: «Die Lebensmitte» gibt es eigentlich gar nicht, nicht im Sinne eines Mittel- oder Höhepunktes, zu dem hin das Leben aufsteigt, und dann fällt es wieder ab. Wir leben in Dritteln:
- Wir lernen daheim und im Beruf und nehmen Erfahrungen anderer entgegen.
- Mit diesem Hintergrund gehen wir Schritte in das hinein, was noch das eigene Leben werden soll.
- Eröffnet wird es dann meist durch eine Unterbrechung: die erträumte Chance, das Ende einer Illusion, eine zugesprochene Verantwortung.
Wir sind unseres eigenen Glückes Schmied? Das wäre nur ein kleines Glück. «Menschliches Selbst ist immer ein Selbst-in-Beziehung», schreibt die Ärztin Christl Vonholdt im neuen Rundbrief der Offensive Junger Christen (OJC) in Reichelsheim. Jede Chance kommt von außen, an jeder Illusion waren auch andere beteiligt, einen Zuspruch gibt man sich nicht selbst. Aber wir antworten darauf; wir geben das Ant-Wort.
In jenem Seminar haben sie uns dafür den Sinn geschärft. Von anderer Seite war ich dafür schon etwas vorbereitet. Eugen Rosenstock-Huessy erläutert in seinem Buch «Heilkraft und Wahrheit», welche «drei Wege uns aus unserer Gewohnheit herausreißen: Lieben, Leiden, Gebet» (Seite 61).
Der Leidende sei «der klarste Fall», schreibt er. Sobald er «dem Leiden selber nicht entläuft, ist er schon auf dem umgekehrten Weg». Der «Verliebte und Begeisterte» verlasse «sein tägliches Geleise gern» und «kann sich selbst über die Liebe vergessen». Wie verhält es sich mit dem Beter? Der «kann sich seines eigenen Willens entäußern» durch seine Hell-Hörigkeit auf Gottes Wege und Wort. Allen drei gemeinsam ist: Sie sind «Träger neuer Frage. Sie können sich widmen.»
Frau Vonholdt bringt hier − ganz ohne diese Rückbezüge − eine wertvolle Präzisierung, wenn sie Idealismus und Hingabe voneinander abgrenzt. Der Idealist, so umschreibe ich das nun weiterführend, versucht, sich und «seine Leute» an seinen eigenen Zielen und Vorstellungen hochzuschrauben, und bleibt selbstbezogen. Der Hingegebene aber lebt in einer Beziehung und macht sich verletzlich. Warum macht er das? Weil er sich von etwas oder jemandem hat überzeugen lassen, das oder der seine Lebenszeit wert ist. Er lebt und stiftet Gemeinschaft.
Worin kann ich aufgehen, ohne mich zu verlieren? Woher nehm ich überhaupt erst den Mut, so ein Aufgehen zu wagen? Der Idealist kalkuliert seine Möglichkeiten, Kräfte, Aussichten. Der Hingegebene weiß sich so gebunden wie frei in seinen Wegen und Formen, weil ihn ein neuer Geist beseelt hat.
An einer der kuriosesten Stellen des Neuen Testaments tritt die freie Hingabe sehr deutlich zutage. Auf einem Aposteltreffen in Jerusalem diskutierte man die Frage, ob und inwieweit sich auch gläubig gewordene Nichtjuden an überlieferten jüdischen Sitten zu orientieren hätten. Im Schlussdokument steht dann die grandiose Wendung: «Der Heilige Geist und wir haben nämlich für gut befunden, ....» (Apostelgeschichte 15,28, hier nach Fridolin Stier zitiert).
Hingegebene gläubige Menschen, die mit Gottes Heiligem Geist unterwegs waren und gerade so und so erst in ungeahnte Freiheit, Tapferkeit, Freimütigkeit hineingewachsen sind.
«Was würdest du am Ende von deinem Leben bedauern, wenn du es nicht getan hättest?» Wenn ich nicht an diesem «Geist der Freiheit», wie ihn Paulus nennt, festgehalten und mit ihm zusammen nicht immer wieder die Ungeister unserer Zeit verscheucht hätte. Wie das geht? Zaghaft-frisch im Wort zu lesen anfangen, irgendwo in den Evangelien, irgendwo in den Briefen. Wo ich hängen bleibe und es mir ein Staunen oder ein Lächeln ins Gemüt legt, dort weht der Heilige Geist. Das neue Widmen könnte anfangen.
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Wort zum Sonntag vom 1. Juni 2025: Auch Warnen will gelernt sein
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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