Transition News: Wo und wie haben Sie den Angriff der palästinensischen Kämpfer am 7. Oktober 2023 erlebt und was haben Sie darüber gedacht?
Moshe Zuckermann: Ich war mit einem Freund an einer Tankstelle. Der Freund las Nachrichten auf seinem Handy, und sagte plötzlich: «Es ist Krieg ausgebrochen». Er sah nämlich auf einer Vorwarn-App ungewöhnlich viele Anzeigen von laufenden Raketenangriffen. Das war kurz vor 6.30 Uhr morgens. Eine Minute später erklang die Sirene, und wir fuhren schleunigst weg von der Tankstelle. Zuhause erfuhr ich dann durch die Medien vom Ausmaß der Hamas-Attacke. Im weiteren Verlauf des Tages drangen auch immer mehr Nachrichten vom pogromartigen Massaker durch. Ich war entsetzt und der Schock hielt noch Tage an.
Professor Moshe Zuckermann 2018 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Wie schätzen Sie die damaligen Ereignisse heute ein, und wie vor allem die Folgen? Was ist in Israel über die genauen Vorgänge vor einem Jahr bekannt?
Sosehr mich die Monstrosität der Hamas-Aktion zunächst entsetzte, war mir auch klar, dass sie in einem Kontext stattfand. Israel hatte zwar im Jahre 2005 den Gazastreifen geräumt, aber kontrollierte ihn in jeglicher Hinsicht fast gefängnisartig. Das musste explodieren, zumal der israelisch-palästinensische Konflikt inzwischen von der politischen Tagesordnung Israels (und der Welt) durch Netanjahus Politik («Den Konflikt muss man nicht lösen, sondern nur verwalten») hinweggefegt worden war. Der Hamas-Angriff kam für Israels Militär- und Politelite völlig überraschend. Man war der festen Überzeugung gewesen, dass die Hamas «abgeschreckt» sei, mithin nicht wagen würde, Israel massiv zu attackieren. Diese («Konzeption» genannte) Überzeugung, die zu einer Art Doktrin geronnen und von arroganter Überheblichkeit getragen war, hat sowohl die Regierung als auch die Armee und die Geheimdienste fürs sich Anbahnende blind gemacht. Sie waren total überrumpelt und noch Tage, ja Wochen, paralysiert. Als man schließlich «zu sich gekommen» war, begann ein höllischer Rache- und Vergeltungszug, der darauf aus war, die Hamas zu zerschlagen, was immer es koste. Der Gazastreifen ist nunmehr verwüstet, über 40‘000 Menschen, unter ihnen unzählige Frauen und Kinder, sind getötet worden. Die anfangs noch weltweit bezeugte Solidarität mit Israel war durch die an Brutalität völlig disproportionale Reaktion der Israelis innerhalb weniger Wochen verspielt.
Was mit dem Angriff auf den Gazastreifen als Reaktion auf die Attacke der Hamas am 7. Oktober 2023 begann, wurde durch die israelische Führung zu einem Vernichtungsfeldzug und zu einem Flächenbrand ausgeweitet. Israel kämpft an mehreren Fronten: gegen die Hamas in Gaza, gegen die Hisbollah im Libanon, gegen die Huthi im Jemen und gegen den Iran. Was sind aus Ihrer Sicht die Motive der israelischen Führung für diese Eskalation?
In erster Linie hängt das mit Netanjahus Privatinteresse zusammen: Er ist vor allem darauf bedacht, seinen Macht- und Herrschaftserhalt zu garantieren, nicht zuletzt, um den wegen Korruption, Betrug und Veruntreuung gegen ihn geführten Prozess zu verzögern oder gar ganz zu annullieren. Es ist fast jedem in Israel klar, dass er seinem Privatinteresse dem des Staates den Vorrang gibt. Dafür hat er sich auch eine Regierungskoalition zurechtgebastelt, die rechtsradikalste, die die israelische Parlamentsgeschichte je kannte, deren Mitglieder seinen Bestrebungen aus je eigenen sektoralen bzw. partikularen Interessen willfahren. Es ist eine verschworene Interessengemeinschaft entstanden, die teils ideologisch verblendet, teils zynisch kalkulierend den Krieg und seine möglichst lange Fortsetzung will. Man will keinen Waffenstillstand, keine politische Lösung, keinen Frieden – man will den Krieg.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Netanjahu die Verantwortung für das Desaster des 7. Oktober nicht übernommen hat, mithin eine staatliche Untersuchungskommission zu verhindern trachtet. Die Armee versucht sich durch militärische Erfolge (die sie zum Teil in der Tat verzeichnen darf) zu rehabilitieren. Flankiert wird dieser perfide Zynismus an der Spitze durch einen Großteil der israelischen Bevölkerung: Viele mögen Netanjahu hassen, sind aber nicht bereit, ihm während eines laufenden Krieges «in den Rücken zu fallen». Dass man dabei selbst die in Hamas-Gefangenschaft verbliebenen Geiseln zugunsten der von der Regierungskoalition betriebenen No-deal-Politik zu opfern bereit ist – es sind nicht Millionen, die auf den Straßen für sie demonstrieren, ja nicht einmal Hunderttausende –, lässt den moralischen Zusammenbruch des israelischen Staates erkennen.
Als Israel vor einem Jahr den Vernichtungsfeldzug im Gazastreifen begann, waren seine erklärten Ziele, die mehr als 250 Geiseln zurückzuholen, die Hamas zu eliminieren und die Sicherheit in Israel wiederherzustellen. Inzwischen ist der Gazastreifen praktisch plattgebombt und es gibt dort eine humanitäre Katastrophe, von der nicht nur mehr als 40‘000 tote Palästinenser künden. Dennoch konnte die IDF gerade mal acht Geiseln lebend befreien und auch die anderen beiden Ziele wurden nicht erreicht. Warum wird dieser Feldzug fortgesetzt? Was will die israelische Führung tatsächlich erreichen?
Wie ich schon sagte, ist das Interesse der israelischen Führung an der Fortsetzung des Krieges fremdbestimmt. Die erklärten Kriegsziele konnten von Anbeginn nicht erreicht werden: Der Gazastreifen ist zerbombt und verwüstet worden, aber die Hamas lässt sich nicht unterkriegen. Die Hamas als Idee kann man nicht «besiegen»; Ideen lassen sich nicht militärisch besiegen, so wie auch der längst verkommene Zionismus sich nicht besiegen lässt. Israel hat keine Strategie vorgelegt, was «am Tag danach» im Gazastreifen geschehen soll. Das kommt nicht von ungefähr, denn nicht nur will man den Krieg nicht beenden, sondern man weiß auch nicht, wie er beendet werden soll, ohne die «Kriegsziele» erreicht zu haben.
Der einzige Weg, das wirklich wichtige Kriegsziel zu erreichen – namentlich die Befreiung der Geiseln – wäre ganz am Anfang durch einen Deal zu erlangen gewesen. Aber das konnte das militaristische, auf Gewalt basierende israelische Selbstverständnis nicht zulassen. Es musste mit aller Vehemenz zurückgeschlagen werden. Und jetzt, da der Iran direkt involviert ist, hat man Blut gerochen – endlich kann er direkt angegriffen werden. Die echauffierte Rhetorik der Politiker und Medien ergeht sich in Gewaltphantasien, die nukleare Infrastruktur Irans oder dessen Ölfelder zu attackieren. Die höllische Gewalteskalation, die eine solche Reaktion Israels zeitigen würde, wird in Kauf genommen, als sei sie die selbstverständlichste Sache der Welt. Nicht nur Netanjahu redet von einer durch Israels Gewaltmaßnahmen zu bewirkenden Neuordnung des Nahen Ostens, sondern auch der Oppositionsführer, Yair Lapid, hat sich bereits für einen Angriff auf Irans Nuklearkapazität öffentlich geäußert.
Kürzlich hat die Regierung von Benjamin Netanjahu nun ein viertes Ziel verkündet: Die Rückkehr der zehntausenden evakuierten Bewohner des Nordens Israels zu ermöglichen. Dafür ist die IDF in den Süden Libanons eingedrungen, hat die Bombardierung dieses Landes massiv intensiviert und Hisbollah-Führer umgebracht. Dabei ist die Hisbollah gerade aufgrund früherer Kriege gegen Israel erstarkt und hat die IDF im Jahr 2000 aus dem Süden Libanon vertrieben, den sie seit 1982 besetzte. Wie schätzen Sie das angebliche Ziel ein, den Norden Israels wieder sicher zu machen? Ist das so erreichbar?
Israels Norden kann nur durch eine politische Lösung wieder sicher gemacht werden. Aber Israel glaubt nicht an diese Möglichkeit. Man meint, den Feind durch gesteigerte Gewalt zum Niederknien, also zur Kapitulation, zwingen zu sollen. Aber das hat bei den auf Guerillakrieg beziehungsweise Terror basierenden militärischen Formationen noch nie wirklich geklappt. Es gibt keinen liquidierten Führer, der nicht ersetzbar wäre; man kann nicht mehr nur auf Abschreckung setzen – diese Lehre sollte man vom 7. Oktober gezogen haben. Man kann die Waffenarsenale schädigen, aber die sind bekanntlich stets wieder auffüllbar. Daher ist auch die gegenwärtige israelische Armeeoperation letztlich vergeblich. Die Bevölkerung Libanons wird in katastrophale Mitleidenschaft gezogen, aber das hat weder im Libanon noch im Gazastreifen zur Erhebung der Zivilbevölkerung gegen die Hisbollah beziehungsweise die Hamas geführt. Man muss auch verstehen, dass der akkumulierte gegenseitige Hass der sich bekämpfenden Feinde mittlerweile Höhen erlangt hat, von denen man kaum weiß, wie sie in absehbarer Zukunft abebben sollen.
Israel hat die Hamas lange unterstützt, insbesondere um eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Ist die Situation, in der sich das Land heute befindet, womöglich gewollt? Was ist das Ziel der israelischen Regierung bezüglich der Palästinenser?
Israel hat nur das eine Ziel bezüglich der Palästinenser: die Errichtung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Und insofern die nun entstandene Situation dieses eine Negativziel fördert, ist sie in der Tat gewollt. Die Verhinderung eines souveränen palästinensischen Staates war nicht nur das Ziel Netanjahus, sondern letztlich das aller israelischen Regierungen seit 1967 – mit der möglichen Ausnahme der Regierung Yitzhak Rabins in den 1990er Jahren; aber Rabin ist ja bekanntlich gerade deshalb ermordet worden. Wenn man Israels Siedlungspolitik im Westjordanland zum Kriterium der Bereitschaft Israels erhebt, der Gründung eines souveränen Staates Palästina zuzustimmen, so darf behauptet werden, dass Israel diese Bereitschaft nie bekundet hat, ganz im Gegenteil – alle israelischen Regierungen haben das illegale Siedlungswerk befördert, selbst die Regierung Rabins. Und weil diese Politik so unaufhaltsam betrieben worden ist, hat man das Territorium (dezidiert) so massiv zersiedelt, dass heute eine Räumung der besetzten Gebiete und der Abbau der Siedlungen ohne einen innerisraelischen Bürgerkrieg kaum noch denkbar sind.
Die israelischen Regierungen haben auch mit ihrer Siedlungspolitik, dem Siedlungskolonialismus, im Westjordanland eine Zweistaatenlösung praktisch unmöglich gemacht. Insbesondere fanatische messianische Siedler sind zu allem bereit und wollen das Gebiet nicht lebend verlassen. Sehen Sie noch eine Lösung dieses fast 80 Jahre dauernden Konfliktes?
Im Moment (und letztlich nicht nur im Moment) sehe ich keine Lösung dieses Konflikts, zumal gerade die Siedlerbewegung und ihre Gesinnung in der israelischen Gesellschaft mittlerweile Fuß gefasst haben. Man bedenke, dass ihre wichtigsten Vertreter und Vertreterinnen heute eine gewichtige Rolle in Netanjahus Regierungskoalition spielen: Bezalel Smotrich ist messianisch beseelter Finanzminister und Itamar Ben-Gvir ist brachialer Polizeiminister. Bedenkt man zudem, dass der rassistisch-religiöse Faschist Meir Kahane in den 1980er Jahren aus dem israelischen Parlament ausgestoßen und ihm eine weitere Kandidatur fürs Parlament verwehrt wurde, weil man seine Ideologie als demokratisch untragbar einstufte, kann man erst ermessen, welchen Weg Israel inzwischen durchmessen hat, wo jetzt sein ideologischer Nachfolger (Itamar Ben-Gvir) nicht nur einen bedeutenden Ministerposten innehat, sondern nach den Erhebungen des letzten Jahres bei den nächsten Wahlen merklich erstarken dürfte. Dieser Trend sagt eine Menge über die gesamte israelische Gesellschaft und ihre Ausrichtung auf die Palästinenser aus.
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Professor Moshe Zuckermann (Jahrgang 1949) wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. Im Westend-Verlag erschien zuletzt sein mit Moshe Zimmermann gemeinsam verfasstes Buch «Denk ich an Deutschland ... Ein Dialog in Israel» (2023).
Teil 2 des Interviews folgt am Donnerstag.
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