Ján Čarnogurský, ein angesehener Jurist und Politiker, spielte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Slowakei eine entscheidende Rolle. Nach dem Ende des Warschauer Pakts war der Christdemokrat von 1991 bis 1992 der erste Premierminister der Slowakei und 1998 bis 2002 Justizminister. Er spricht öfters mit deutschsprachigen Medien und erklärt die Situation in der Slowakei.
In einem Interview mit RT äußerte sich Čarnogurský nun zur politischen und gesellschaftlichen Lage in der Slowakei nach dem Attentat auf den amtierenden Premierminister Robert Fico (wir haben hier und hier darüber berichtet). Fico war am 15. Mai bei einem Anschlag schwer verletzt worden, befindet sich jedoch nach zwei Operationen auf dem Weg der Besserung und wurde zur Genesung nach Hause verlegt. In einem Video hat er sich kürzlich an die Bevölkerung gewandt und auch bei den Europawahlen hat er seine Stimme abgegeben.
Čarnogurský erklärte, dass die Ermittlungen zu den Hintergründen des Attentats noch am Anfang stünden. Es gebe bisher keine ausreichenden Beweise für eine größere Verschwörung, auch wenn die liberal-progressiven Medien den Attentäter als Chaoten aus dem nationalistischen Lager darstellen. Čarnogurský sieht ihn eher als Produkt ebendieser Medien, die vor allem in ausländischen Händen seien.
Die öffentliche Unterstützung für Fico und seine Regierung stieg nach dem Attentat an, wobei in der Öffentlichkeit – immer gemäß Čarnogurský - den Oppositionsparteien, den ausländischen Mainstream-Medien und den Rednern an den Großdemonstrationen gegen die Regierung die Hauptschuld am Attentat zugewiesen wird. Die letzteren hätten Gewalt gegen die Regierung bis zu einem gewissen Grad gutgeheißen.
Die politischen Demonstrationen der Opposition gegen die Regierung wurden vorerst eingestellt. Sollte Fico aus gesundheitlichen Gründen amtsunfähig werden, müsste er als Premierminister zurücktreten, was den Sturz der gesamten Regierung zur Folge hätte. Die aktuelle Koalition würde jedoch voraussichtlich eine neue Regierung bilden, da sie über die Mehrheit verfügt, wobei niemand vom Format und vom Standvermögen von Fico zur Verfügung stünde. Allerdings erholt sich der Ministerpräsident erstaunlich schnell und will in wenigen Wochen sukzessive die Regierungsgeschäfte wieder übernehmen.
Fico, der seit Oktober 2023 zum vierten Mal Premierminister ist, wird von Čarnogurský als vorsichtiger beschrieben als früher. Er wurde bereits mehrmals abgewählt und ist immer zurückgekommen – ein «animal politique». 2018 musste er zurücktreten, weil ihm eine Mitverantwortung am Mord des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová zugewiesen wurde, Vorwürfe, die Čarnogurský als haltlos bezeichnet. Tatsache ist, dass ihm nie etwas nachgewiesen wurde. Ab 2020 tauchte er wieder auf im Zusammenhang mit der Opposition gegen die Corona-Maßnahmen in seinem Land. An einer entsprechenden Demonstration wurde er auch kurzzeitig verhaftet.
Die kleine Slowakei habe in den letzten zwei Jahren mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, mit denen es keine ernsthaften Probleme gäbe. Dem kommt entgegen, dass die ukrainische und die slowakische Sprache eng verwandt sind (etwa 70% Übereinstimmung) und es keine ernsthaften sprachlichen Verständigungsprobleme gibt. Die besten Beziehungen unterhalte die Fico-Regierung zur Orbán-Regierung in Ungarn. Aufgrund der traditionell engen Beziehungen zur Tschechischen Republik sei die Regierung von Fico auch zu einem Anziehungspunkt für ähnliche gesellschaftliche Kräfte in der Tschechischen Republik geworden.
Die Slowakei werde sich an keiner kollektiven westlichen Operation in der Ukraine beteiligen. Das sei die Politik der slowakischen Regierung. Čarnogurský betonte aber, dass die ehemaligen Ostblockstaaten, einschließlich der Slowakei, eine durchaus differenzierte Sichtweise auf die EU und die NATO haben. Während Polen sich stärker gegen Russland positioniere, pflege die Slowakei gute Beziehungen zu Russland und sei stolz auf ihre Unabhängigkeit von Tschechien. In der Slowakei werde die ethnische Zugehörigkeit als wichtiger für den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesehen als in westlichen Ländern.
Am Ende des Kommunismus sei die heutige Europäische Union für die Völker aller damaligen kommunistischen Länder ein erstrebenswertes Ideal gewesen. Aktuell sei das Gleiche auch für die heutige Ukraine oder Georgien der Fall.
Nach ihrem Beitritt sei eine gewisse Ernüchterung eingetreten, aber die ehemals kommunistischen Länder seien immer noch EU-positiv. Neuere Werte und «politische Korrektheit» seien in diesen Ländern aber weniger beliebt. Stattdessen werde vielerorts die ursprüngliche, traditionelle Ausrichtung von Werten wie Familie, Ehe und Geschlecht wiederhergestellt und vertreten.
Polen habe Ambitionen für eine größere Machtposition in Europa und stehe im Gegensatz zu Russland. In der Slowakei sei man hingegen zufrieden über die Unabhängigkeit von Tschechien und in der Gesellschaft sei eine gute Meinung über Russland vorherrschend. In Tschechien hingegen schwanke man zwischen stärkerer Westintegration und Aufrechterhaltung der Bindungen mit dem Osten.
Ungarn strebe nach einer Rückkehr zu seiner früheren Bedeutung. Außerdem wünschen sich die Ungarn eine engere und juristisch abgesicherte Anbindung an die ungarischen Minderheiten in den umliegenden Staaten. Alle ehemaligen Staaten des Ostblocks haben wenig Verständnis dafür, die Probleme westlicher Länder mit ihren ehemaligen Kolonien zu lösen, beispielsweise in Form von Flüchtlingen, die nach Europa kommen.
Allgemein sei den Menschen in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten die ethnische Zugehörigkeit von größerer Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt als formale staatliche Zugehörigkeit, wie zum Beispiel durch eine Staatsangehörigkeit.
Čarnogurskýs Einschätzung ist insofern glaubwürdig, als seine Christdemokraten (KDH) zwischen den beiden Blöcken agiert, wobei er selber wohl eher den Positionen Ficos zuneigt. Bei den Europawahlen gewann die KDH in der Slowakei ein Mandat und bei den letztjährigen Parlamentswahlen gewann sie zwölf von 150 Sitzen im Nationalrat.
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