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Durch die digitalen Plattformen wie TikTok, Snapshot, Twitter und Instagram ist der israelische Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen «der meistgezeigte Völkermord in der Geschichte». Das sagt eine kanadische Wissenschaftlerin, die seit Jahren in dem Gebiet geforscht hat, gegenüber dem investigativen US-Journalisten Seymour Hersh. Zugleich würden die westlichen Medien mit ihrer Berichterstattung versagen.
Hersh gibt die Aussagen der auf ihren Wunsch anonym bleibenden Frau in seinem aktuellen Text in seinem Blog wieder. Es handelt sich um einen Blick aus dem Inneren eines Vernichtungskrieges, der Folgen für die Zukunft habe.
Die Forscherin hat demnach seit Jahren in Gaza gearbeitet, spricht Arabisch und kennt die Menschen im Gaza-Streifen. Das gelte auch für «das Gebiet, das einst eine mediterrane Oase mit großen Gärten und exotischen Früchten war und seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres und der israelischen Reaktion darauf zu einer kargen Todesfalle geworden ist».
Die Kanadierin sei vom Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres «schockiert und entsetzt». Sie sehe ihn aber im Zusammenhang mit der jahrzehntelangen brutalen Unterdrückung des Lebens in Gaza durch Israel. Sie bewundere das palästinensische Volk und seine Bereitschaft, «sich anzupassen und entgegenzukommen».
Das Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen habe ein «neues Terrain der Gewalt gegen Zivilisten eröffnet».
«Im nächsten Krieg, ob im Libanon oder in einem anderen Teil der Welt, wird es nicht mehr so schockierend sein, Krankenhäuser systematisch ins Visier zu nehmen, weil wir die Live-Überfälle auf Krankenhäuser gesehen haben, vier oder fünf davon. Und Journalisten ins Visier zu nehmen, wird nicht schockierend sein. Mehrere Bilder von enthaupteten Babys in einem Livestream werden nicht schockierend sein.»
Die Menschen würden nicht verstehen, dass das, womit die Israelis in Gaza davonkommen, die Grundlage für künftige Kriege schaffe, zitiert Hersh die Frau. Und wenn internationale Organisationen die Menschen in Gaza im Stich lassen und Resolutionen des UN-Sicherheitsrats ignoriert werden, würden sie in Zukunft von allen ignoriert werden, warnt sie.
Zeugnisse auf Plattformen
Die Menschen würden nicht vergessen, was seit Oktober 2023 trotz aller Forderungen, das zu beenden, geschieht. Sie seien deshalb so verängstigt und wütend. Die Wissenschaftlerin sagt:
«Ich habe Angst vor dem, was kommen wird, aber verstehen Sie mich nicht falsch. Warum sollte das, was kommen wird, schlimmer sein als das, was gerade gekommen ist? Dies ist der meistgezeigte Völkermord in der Geschichte.»
Die jungen Palästinenser im Gaza-Streifen würden die digitalen Plattformen wie TikTok, Snapshot, Twitter und Instagram nutzen und in Echtzeit zeigen, was passiert, und damit zugleich Geld sammeln, damit sie überleben können.
«Es ist unglaublich und das ist es, was es auszeichnet. Das visuelle Element dieses Krieges ist Teil der Normalisierung. Es ist auch Teil der Schwierigkeit, die Israel hat, zu leugnen, dass Dinge geschehen, weil wir in der Lage sind, sie zu sehen, zu lokalisieren und zu beweisen.»
Das israelische Militär leugne nicht mehr, dass sie Krankenhäuser überfallen oder Schulen bombardiert haben. Es erkläre nur, «dass es gerechtfertigt ist».
«Israel ist in dieser Hinsicht nicht einzigartig. Einzigartig ist der visuelle Beweis, den wir haben, obwohl nicht viele internationale Journalisten ihre Arbeit unabhängig vor Ort verrichten.»
Das sei «Teil des Terrors, den viele von uns empfinden», zitiert der Journalist die Wissenschaftlerin. Gaza sei «Vergangenheit und Zukunft zugleich». Die USA würden dabei an Israel die Botschaft übermitteln: «Ihr könnt eskalieren, aber haltet es unter Kontrolle.» Und genau das geschehe.
«Am Anfang, als wir sahen, wie eine Handvoll Kinder in die Luft gesprengt und in Stücke gerissen wurde, war das schockierend. Jetzt sehen wir es immer und immer wieder.»
Sie habe im Gaza-Streifen gesehen, was mit den Menschen geschehe. Selbst die Ärzte, die täglich und heldenhaft versuchen, den Menschen zu helfen, seien «genauso verstört und traumatisiert und hundertmal so erschöpft und überarbeitet wie ich».
Die US-Regierung sei «absolut unfähig», Druck auf Israel auszuüben – «und die nächste wird es auch nicht sein». Sie habe nicht viel Hoffnung für die Demokraten oder die Republikaner, wird sie zitiert.
«Wir dokumentieren das jetzt nicht nur für uns selbst. Wir dokumentieren es für die Zukunft.»
Gezielter Völkermord
Im Rückblick werde dann versucht zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die Hauptgruppe der Menschen in Palästina, «die getötet und zerfetzt werden, Frauen und Kinder sind». Kinder würden von einem einzigen Schuss aus einem Scharfschützengewehr in den Kopf getroffen oder von Bulldozern plattgewalzt. Sie würden an Infektionen sterben – «es handelt sich um eine völkermörderische Absicht.»
«Eine Frau, die in Gaza ein Kind zur Welt bringt, befindet sich in der Hölle. Sie hat zwei oder drei Stunden Zeit, um ihr Kind zur Welt zu bringen, und sobald sie es tut, wird sie nach Hause geschickt. Und nach Hause geschickt zu werden bedeutet, stundenlang mit dem Neugeborenen in den Händen zu gehen oder auf einem Eselskarren zu sitzen, was schrecklich ist – voller Tiere und schmutzig. Sie und Ihr Kind werden sich infizieren. Frauen sind ein Ziel.»
Die Wissenschaftlerin macht gegenüber Hersh darauf aufmerksam, dass sehr wenig untersucht wird, was mit den palästinensischen Männern «in dieser Wiederholung des Völkermords» geschieht. Es gebe Berichte über Männer, die gedemütigt und vergewaltigt wurden.
«Mehrere Ärzte haben mir von einem Muster berichtet, das sie bei jungen Männern in ihren Zwanzigern beobachten: Sie werden von israelischen Scharfschützen in die Leistengegend geschossen. Dadurch können sie keine Kinder mehr zeugen.»
Niemand erfasse all diese Fälle in Statistiken, sagt sie. Die Forscherin machte demnach deutlich, dass sie voll und ganz dafür sei, Studenten an Universitäten weltweit zu mobilisieren, um politischen Druck auf die Vereinigten Staaten und andere Nationen in Westeuropa auszuüben, damit diese die Lieferung von Bomben und anderen Waffen an Israel einstellen.
Sie beunruhige auch, dass einige israelische Soldaten, die nach einem Einsatz in Gaza im Ausland Urlaub machten, viele von ihnen mit doppelter Staatsbürgerschaft, auf den digitalen Plattformen Videos ihrer Verstöße in Gaza zeigten.
«Diese Soldaten posten und prahlen offen mit ihren Verstößen gegen das Militärrecht, bevor sie nach Gaza zurückkehren. Ich denke, wir sollten sie verfolgen.»
Die westliche Presse versage mit ihrer Berichterstattung über den Gaza-Krieg, so die Wissenschaftlerin gegenüber dem US-Journalisten. Das betreffe nicht nur das Geschehen vor Ort, sondern auch die Berichte über diejenigen, die weltweit auf verschiedene Weise gegen den israelischen Vernichtungskrieg protestieren.
«Dies sind existenzielle Momente für die Medien und sie versagen dabei, sich der Herausforderung zu stellen. Ich bin nicht daran interessiert, die New York Times oder die Washington Post vor sich selbst zu retten.»