Vor nunmehr fast 80 Jahren, am 27. Januar 1944, hat die sowjetische Rote Armee die deutsche faschistische Blockade Leningrads, des heutigen St. Petersburg, beendet. Und noch immer verweigert die deutsche Regierung den Überlebenden dieses unfassbaren Kriegsverbrechens eine angemessene Entschädigung. Darauf macht der aussenpolitische Informationsdienst German Foreign Policy (GFP) in einem aktuellen Beitrag aufmerksam.
Am gleichen Tag ein Jahr später, 1945, hatten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz erreicht und die Überlebenden befreit. Sie bekamen medizinische Hilfe von sowjetischen Ärzte, die zuvor den Menschen von Leningrad geholfen hatten, die Schrecken der Blockade zu überstehen.
Der 27. Januar gilt seitdem auch in Deutschland als «Holocaust-Gedenktag». Dagegen wird hierzulande an die über eine Million Menschen verschiedener Nationen, die damals in Leningrad starben, kaum erinnert. Darauf haben einige der letzten Überlebenden der faschistischen Blockade, insgesamt etwa 60’000, bereits im September 2023 in einem Aufruf an die deutsche Bundesregierung aufmerksam gemacht.
Der aktuelle GFP-Beitrag erinnert an den Aufruf und daran, dass bisher lediglich jüdische Opfer eine Entschädigung erhalten haben: «Berlin sprach ihnen im Jahr 2008 eine Einmalzahlung von genau 2556 Euro zu. Diese Summe fordern nun auch die nichtjüdischen Überlebenden ein.»
Der deutsche Plan, Leningrads Bevölkerung umzubringen, habe explizit auch den als slawische «Untermenschen» diffamierten nichtjüdischen Einwohnern der Stadt gegolten. Die Bundesregierung stufe dagegen den deutschen Hungergenozid ausdrücklich als «allgemeine Kriegshandlung» ein, für die keine Entschädigung zu zahlen sei.
Der Beitrag erinnert an das Geschehen vor mehr als 80 Jahren, nachdem die faschistische deutsche Wehrmacht am 8. September 1941 den Blockadering um Leningrad schloss.
«Damit war die Grossstadt, in der damals rund drei Millionen Menschen lebten, im Süden durch deutsche Truppen von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Im Norden erledigten das die Streitkräfte des mit dem NS-Reich verbündeten Finnlands.»
Die Wehrmacht habe gezielt Lebensmittellager und andere Versorgungseinrichtungen bombardiert. In der Folge trat Berichten zufolge bereits nach wenigen Wochen ein dramatischer Mangel an Nahrung und an Energieträgern auf. «Tödlicher Hunger griff um sich, die eisige Kälte kostete gleichfalls zahlreiche Menschenleben.»
«Kindergreise, die niemals lächelten, die schweigsam und kraftlos waren, die alles verstanden und doch nichts begriffen. Die Deutschen, der Krieg, die Faschisten waren irgendwo vor der Stadt.»
Das machte die deutsche Blockade Leningrads aus den Jüngsten. Daran haben die beiden Schriftsteller Ales Adamowitsch und Daniil Granin in ihrem 1984 erstmals erschienenen «Blockadebuch – Leningrad 1941 – 1944» erinnert. Der Aufbau-Verlag hatte das Buch 2018 in einer neuen deutschen Übersetzung und auf Grundlage der ungekürzten russischen Originalfassung von 2014 neu veröffentlicht.
«Konkret waren die Dunkelheit, der Hunger, die Sirenen, die Bombeneinschläge – unbegreiflich, warum all das über die Menschen hereingebrochen war», so die beiden Autoren in dem Buch, in dem sie die Erinnerungen von Überlebenden des Leides festhielten.
«Die Kindheit der Kleinen fand ein jähes Ende. Später fiel es diesen kleinen Greisen nicht leicht, ins Leben, in die Kindheit, zu sich selbst zurückzufinden.»
Sowjetische Offensiven mit dem Ziel, Leningrad zu befreien, scheiterten mehrfach, heisst es bei GFP. Erst am 27. Januar 1944 sei es der Roten Armee gelungen, die Blockade zu brechen. In den fast 900 Tagen der Blockade kamen nahezu 1,1 Millionen Menschen ums Leben. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen verhungerte oder erfror.
«Dass dieses Verbrechen, eines der brutalsten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, in der deutschen Erinnerungskultur nur eine Nebenrolle spielt, ist schwer begreiflich», hatte die deutsch-argentinische Filmemacherin Jeanine Meerapfel im Januar 2019 bei einer Veranstaltung in Berlin erklärt. Das gelte umso mehr, «wenn man die Aufzeichnungen liest, die im Blockadebuch von Ales Adamowitsch und Daniil Granin versammelt sind».
Mitautor Granin hatte selbst als Soldat die Blockade Leningrads miterlebt. «Doch die vielen grausamen, traurigen Berichte, die Granin und Adamowitsch 35, 36 Jahre später hörten, machten beide krank», berichtete Meerapfel 2019.
«Es waren nicht nur Erzählungen von Hunger, Kälte, Bombardierungen, von den Bergen von Leichen, es waren auch Berichte über Kannibalismus. Aber es waren auch Erzählungen von Mitgefühl und Barmherzigkeit.»
Granins hatte am 27. Januar 2014 vor dem deutschen Bundestag in dessen damaliger Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus an die Blockade und ihre Schrecken erinnert. Er sprach von den schrecklichen Ereignissen, aber ebenso von den Beispielen menschlichen Mitgefühls:
«Häufig war es so, dass diejenigen überlebten, die anderen beim Überleben halfen. Die in den Schlangen anstanden, Brennholz organisierten, Kranke pflegten, ein Stückchen Brot oder Zucker teilten (…) Natürlich, auch die Retter starben, aber mich hat erstaunt, wie ihnen ihre Seele geholfen hat, sich nicht zu entmenschlichen.»
Granin schilderte vor zehn Jahren aber ebenso, wie die Blockade Menschen zwang, ihr Menschsein zu vergessen:
«Ein Kind stirbt, gerade mal drei Jahre alt. Die Mutter legt den Leichnam in das Doppelfenster und schneidet jeden Tag ein Stückchen von ihm ab, um ihr zweites Kind, eine Tochter, zu ernähren. Und sie hat sie durchgebracht. Ich habe mit dieser Mutter und ihrer Tochter gesprochen. Die Tochter kannte die Einzelheiten nicht. Aber die Mutter wusste alles. Sie hat sich selbst gezwungen, nicht zu sterben und nicht wahnsinnig zu werden, weil sie ihre Tochter retten musste. Und gerettet hat.»
Das «Blockadebuch» erinnere auch daran, «was uns zu Menschen macht», sagte Filmemacherin Meerapfel vor fünf Jahren. Sie nannte die Herausgabe der unzensierten Ausgabe durch den Aufbau-Verlag «einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit».
Doch die Überlebenden der genozidalen Blockade haben vom Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, der Bundesrepublik Deutschland, nie eine angemessene Entschädigung erhalten, so GFP im aktuellen Beitrag. Das wird durch die Regierung damit begründet, dass die Blockade Leningrads als «allgemeinen Kriegshandlung» eingestuft wird.
«Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen», wurde in einer geheimen Direktive der deutschen Kriegsmarine vom 22. September 1941 erklärt.
«Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Grosssiedlung. Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschliessen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleich zu machen. Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser grossstädtischen Bevölkerung besteht unsererseits nicht.»
«Die Blockade von Leningrad war ein geplantes Kriegsverbrechen», so der Schriftseller Ingo Schulze. Er hat für die Neuausgabe des «Blockadebuches» das Vorwort verfasst.
Die ehemalige Sowjetunion habe «in erheblichem Umfang Reparationen vereinnahmt und im August 1953 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet», so die Regierung laut GFP dazu 2017. Ein «Staat, der Reparationen empfangen hat» müsse selbst «die individuellen Schäden auf seinem Territorium ausgleichen», wurde damals erklärt. Und «unter dem Blickwinkel von rechtlichen Entschädigungsleistungen» sei «das Thema im deutsch-russischen Verhältnis (...) abgeschlossen».
Lediglich die Erinnerung müsse «weiterhin wachgehalten werden», hiess es. Der Informationsdienst kommentiert das so:
«Mit sogenannter Erinnerungspolitik inszeniert sich die Bundesrepublik regelmässig PR-wirksam als vorgeblich geläuterter Staat, während sie zugleich die Opfer leer ausgehen lässt.»
Zeit- und Blockadezeuge Granin sagte 2014 im Bundestag auch:
«Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun. Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.»
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