«Dieser Krieg hätte nicht geführt werden müssen. Jeder Beteiligte hat weit mehr verloren als gewonnen.» Das gehört zu den «Lektionen aus dem Ukraine-Krieg», die der ehemalige US-Diplomat Chas W. Freeman Ende September in einem beachtenswerten Vortrag zog.
Freeman, geboren 1943, war Jurist, stellvertretender US-Verteidigungsminister, US-Botschafter unter anderem in Saudi-Arabien sowie Direktor des NATO-Thinktanks «Atlantic Council». Die Schweizer Zeitung Die Weltwoche hat seinen Vortrag in ihrer aktuellen Ausgabe auf Deutsch veröffentlicht.
Aus Freemans Sicht hätte der Konflikt in und um die Ukraine nie zum Krieg eskalieren müssen. Den westlichen Regierungen und anderen Kriegsbefürwortern wirft der Ex-Diplomat nicht nur Propaganda und Zensur vor, sondern auch die «schlechte Angewohnheit», «ihre eigene Propaganda zu inhalieren, was eine wahnhafte Politik garantiert».
In seinem Vortrag geht er ausführlich auf die Hintergründe des zum Krieg eskalierten Konfliktes ein. Das reicht von Aufgabe und Zweck der 1949 gegründeten NATO bis hin zu deren Osterweiterung nach dem Untergang des Ostblocks und dann der Sowjetunion 1991. Freeman vollzieht die bekannte Entwicklung des Konfliktes in der Ukraine nach dem «von den USA unterstützten antirussischen Putsch in Kiew» nach.
Russisches Angebot abgelehnt
Am Ende seien alle russischen Warnungen ignoriert worden. Die ukrainische Armee sei vom Westen so aufgerüstet und ausgebildet worden, dass sie mit 700’000 Soldaten grösser war als die Armee Grossbritanniens und Frankreichs zusammen. Sie habe rund 830’000 aktiven russischen Soldaten gegenübergestanden. Ende 2021 bereiteten sich die Kiewer Truppen auf eine Grossoffensive gegen die Ostukraine vor.
«Es überrascht nicht, dass Russland dies als eine Bedrohung ansah», kommentiert Freeman. Russlands Versuch im Dezember 2021, über Verhandlungen die aufgestauten Probleme und Sicherheitsfragen zu lösen, sei von den USA abgelehnt worden.
Washington habe laut dem Ex-Diplomaten gewusst, dass Moskau inzwischen bereit war, einen Krieg zu führen, um die Bedrohungen zu beseitigen.
«Diese Gesprächsverweigerung war eine eindeutige Entscheidung, das Risiko eines Krieges in Kauf zu nehmen, anstatt einen Kompromiss mit Russland zu suchen.»
Für Freeman wurde der Krieg durch Fehleinschätzungen auf allen Seiten ausgelöst:
«Die Nato-Erweiterung war legal, aber vorhersehbar provokativ. Die Reaktion Russlands war völlig vorhersehbar, wenn auch illegal, und hat sich als sehr kostspielig für Russland erwiesen. Die faktische Integration der Ukraine in die Nato hat zu deren Zerstörung geführt.»
Dramatische Folgen
Um Erfolg oder Misserfolg einer Politik zu beurteilen, müsse diese an den Zielen gemessen werden, die sie erreichen sollte, so der Ex-Diplomat. Für die Ukraine zieht er ein bestürzendes Fazit, zu dem Opferzahlen bei den ukrainischen Truppen gehören, die in die Hunderttausende gehen könnten. Eine «beispiellos intensive Informationskampagne» Kiews verschleiere diese Tatsache gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Das Land habe mehrere Millionen der Anfang 2022 31 Millionen Einwohner verloren, die geflüchtet sind. Die Infrastruktur und die Wirtschaft seien weitgehend zerstört und gleichzeitig die Korruption – «lange Zeit ein herausragendes Merkmal der ukrainischen Politik» – noch schlimmer geworden.
Freeman macht darauf aufmerksam, dass der russische Einmarsch «die Ukrainer, darunter auch viele russischsprachige, in einem noch nie dagewesenen Ausmass geeint habe. Moskau hat damit ungewollt die eigenständige ukrainische Identität gestärkt, die sowohl die russische Mythologie als auch Präsident Putin zu leugnen versuchen.»
Nach der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive ist es aus seiner Sicht unwahrscheinlich, dass der Donbass und die Krim jemals zur Ukraine zurückkehren. Gehe der Krieg weiter, könne die Ukraine noch mehr Territorium verlieren, einschliesslich des Zugangs zum Schwarzen Meer.
Eine Mitgliedschaft des Landes in der NATO – Ziel der westlichen Einmischung – hält Freeman nicht für realistisch. Und warnt:
«Indem der Westen weiterhin darauf besteht, dass die Ukraine nach Beendigung des Krieges Mitglied der Nato wird, hat er Russland auf perverse Weise einen Anreiz gegeben, einer Beendigung des Krieges nicht zuzustimmen.»
USA nicht an Frieden interessiert
Am Ende werde die Ukraine einem Frieden mit Russland zustimmen müssen – «höchstwahrscheinlich zu russischen Bedingungen». Ihre Verhandlungsposition sei geschwächt, während ihr Schicksal für die US-Politik schon immer nachrangig sei.
«Washington hat stattdessen versucht, den ukrainischen Mut zu nutzen, um Russland zu schlagen, die Nato zu stärken und die Vorrangstellung der USA in Europa zu festigen. Und es hat überhaupt keine Zeit darauf verwendet, darüber nachzudenken, wie man den Frieden in Europa wiederherstellen kann.»
Russland habe ebenfalls eine Reihe von Zielen nicht erreicht und einen hohen Preis gezahlt, auch wenn es nicht ruiniert worden sei, wie westliche Politiker es wollten. So sei die Ukraine immer noch unter der Kontrolle des US-geführten Westens und von diesem abhängig.
Kiew sei nun ein «verbitterter, langjähriger Feind Moskaus» und klammere sich immer noch an die Idee einer NATO-Mitgliedschaft.
«Unabhängig vom Ausgang des Krieges hat die gegenseitige Feindseligkeit den russischen Mythos der russisch-ukrainischen Brüderlichkeit, die auf einem gemeinsamen Ursprung in der Kiewer Rus beruht, ausgelöscht.»
Moskau habe keine Alternative, als weiter zu kämpfen, da der Westen nicht auf seine Sicherheitsbedenken eingehe, so Freeman. Das führe auf Seiten der Westeuropäer und bei Staaten wie Polen zu einer fortgesetzten Aufrüstung.
«US-Politik hat grosses Leid verursacht»
Russlands habe es geschafft, den «totalen Krieg der USA und der EU» gegen seine Wirtschaft zu überstehen, und sei gestärkt daraus hervorgegangen. Seine avisierte Schwächung habe stattdessen den Westen selber erreicht.
Freeman sieht bei einer nach aussen geeinten NATO «offensichtlich Risse unter den Mitgliedern». Die Sanktionen gegen Russland hätten vor allem die westeuropäischen Wirtschaften zum Teil schwer geschädigt. Das führe zu Meinungsverschiedenheiten beim weiteren Umgang mit der Ukraine und dem Konflikt.
Der Krieg habe nicht zu mehr Sicherheit in Europa geführt, meint der Ex-US-Diplomat, aber gleichzeitig eine «post-amerikanische multipolare Weltordnung» befördert.
«Ein Merkmal dieser Ordnung ist eine antiamerikanische Achse zwischen Russland und China.»
Washingtons Druck auf andere Länder unter anderem mit weitreichenden sekundären Sanktionen sei «eindeutig nach hinten losgegangen».
«Die US-Politik hat in der Ukraine grosses Leid verursacht und die Verteidigungshaushalte hier und in Europa steigen lassen, aber sie hat es nicht geschafft, Russland zu schwächen oder zu isolieren. Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir keines dieser oft genannten Ziele der USA erreichen.»
Die Ukraine werde «auf dem Altar der Russophobie ausgeweidet», betont Freeman. Niemand könne gegenwärtig sagen, wie viel von der Ukraine oder wie viele Ukrainer nach dem Krieg übrig bleiben werden.
Für nüchterne Aussenpolitik
Er erinnert an Grundregeln der Staatskunst, die helfen könnten, Krieg zu vermeiden und zu beenden. Dazu gehört:
«Wenn Kriege nicht gewonnen werden können, ist es in der Regel besser, nach Bedingungen zu suchen, mit denen sie beendet werden können, als das strategische Scheitern zu verstärken.»
Der ehemalige US-Politiker fordert diplomatische Unterstützung für die Ukraine ein, um einen Frieden mit Russland schliessen und möglichst grosse Teile des Landes retten zu können. Er bedauert, dass in Washington und Moskau derzeit anscheinend der Wille für eine diplomatische Lösung fehle. Dabei müssten Kiew und Moskau «letztendlich eine Grundlage für ihre Koexistenz» finden».
Der Krieg solle bei allen Beteiligten «ein nüchternes Nachdenken über die Folgen einer diplomatiefreien, militarisierten Aussenpolitik» auslösen, erklärt Freeman. Das könnte auch mit Blick auf die derzeitige Aussenpolitik in Berlin gemeint sein.
Und er erinnert daran:
«Hätten sich die Vereinigten Staaten zu Gesprächen mit Moskau bereit erklärt, auch wenn sie vieles von dem, was Moskau fordert, weiterhin ablehnen, wäre Russland nicht in die Ukraine einmarschiert. Hätte der Westen nicht eingegriffen, um die Ukraine daran zu hindern, den Vertrag zu ratifizieren, den andere zu Beginn des Krieges mit Russland geschlossen hatten, wäre die Ukraine heute intakt und in Frieden.»
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