Der moralisch gebildete Mensch,
und nur dieser, ist ganz frei.
Friedrich Schiller

Liebe Leserinnen und Leser

Am letzten Tag des Jahres ist es noch schwieriger die richtigen Worte zu finden als sonst. Zumal, wenn ein Jahr wie dieses zu Ende geht, in dem einschneidende Ereignisse in hochverdichteter Form am laufenden Band stattgefunden haben. Jahresrückblicke gibt es darum zuhauf und auch mein Kollege Konstantin Demeter hat sich gestern insbesondere mit den «wohlwollenden», unkritischen Rückblicken des Mainstreams beschäftigt.

Ich möchte heute allerdings einen anderen Blickwinkel einnehmen. Heute ist nicht nur Silvester, ein Fest, über dessen kulturelle Bedeutung und Herkunft man ohnehin trefflich diskutieren könnte. Wir befinden uns auch noch mitten in den Rauhnächten, über die mein Kollege Daniel Funk kürzlich informiert hat.

Diese Zeit lädt ein und erfordert einerseits Einkehr, aber auch den gleichzeitigen Blick zurück und nach vorn. Nicht umsonst heißt diese Zeit auch «zwischen den Jahren», also genaugenommen: «zwischen der Zeit» oder «jenseits des Zeitlichen». Der Rahmen, der zeitliche, wird gewissermaßen neu justiert, die Uhr neu aufgezogen.

Was wird das neue Jahr bringen? Was bleibt, was wächst, was geht zu Ende? Gerade weil uns im Feld des Politischen, im Großen offenkundig vieles bevorsteht, ist der weite Blick von oben und aus der historischen Ferne notwendig. Ein Schlüssel dafür könnte unter anderem Schiller sein.

Vor kurzem stieß ich auf einen in meinen Augen brillanten Vortrag von Gwendolin Walter-Kirchhoff, der eine Fülle von Wissen, Erkenntnissen und Ideen enthält, welche wir nicht nur mit ins kommende Jahr, sondern weit darüber hinaustragen sollten. Der Titel lautet: «Im Geiste Schillers – Über den Segen der Deutschen Kultur». Es lohnt sich, den knapp zweistündigen Vortrag inklusive Diskussion vollständig anzusehen, am besten mehrmals. Die Quintessenz würde ich folgendermaßen zusammenfassen:

Freiheit, ob in moralischer oder ästhetischer Hinsicht, meint nicht Regel- oder Grenzenlosigkeit. Im Gegenteil: Erst durch den starken Rahmen einer klaren Form wird Freiheit in der Gestaltung überhaupt möglich. Kurz: «Freiheit ist gestaltete Unfreiheit.» Dieser Satz im Geiste Schillers ist gewissermaßen das Mantra des Vortrags.

Auch unter den widrigsten Umständen ist immer noch eine eigene Gestaltung des Schicksals und der Welt möglich – und gerade dann auch notwendig. Das macht Gwendolin Walter-Kirchhoff immer wieder an historischen Beispielen deutlich. Der Moment des Handelns, des Eingreifens, der Gestaltung – so sagt sie mehrfach im Rückgriff auf Schiller – ist immer jetzt. Jetzt, jetzt ... Das heißt auch: Es kann immer auch anders sein, wenn ich, zusammen mit anderen im sozialen Raum, etwas verändere.

In diesem Sinne und Geiste wünsche ich Ihnen für den heutigen Übergang und das kommende Jahr beides gleichermaßen: Form, also Halt, und Freiheit, also Gestaltungsmacht.

Herzliche Grüße und alles Gute für das neue Jahr
Susanne Schmieden