Auch in Bezug auf die Hamas-Attacke auf Israel scheinen die Positionen in der westlichen Politik eindeutig bezogen zu sein. Israel geniesst mehrheitlich die moralistische Unterstützung der Öffentlichkeit.
Bereits ist mitunter die Rede von einem neuen 9/11 oder einem neuen Krieg gegen den Terror. Aussagen von führenden westlichen Politikern knüpfen an diese emotional-propagandistisch vereinnahmenden Narrative und Bildassoziationen an. So erklärte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock: «In diesen Tagen sind wir alle Israelis.» Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat Israel volle Unterstützung, unter anderem militärischer Art, zugesichert.
Emotional sei dies verständlich, so der Politikwissenschaftler und Nahost-Experte Michael Lüders (siehe Video), doch in politischer Hinsicht sehr gefährlich. Im Fall eines grösseren Krieges in der Region bedeute dies, dass wir, die Deutschen, an der Seite Israels in einen Krieg eingreifen werden, ähnlich wie in der Ukraine – «mit sehr viel Bauchgefühl und emotionaler Emphase, aber mit wenig Reflexion über die möglichen Folgen des eigenen Engagements».
Die israelische Regierung bestehe zu erheblichen Teilen aus Rechtsextremisten und strebe im langanhaltenden Palästina-Konflikt nicht nach Kompromissen, sondern sie setze auf Vergeltung, so Lüders. Es seien nach zehn Tagen bereits rund 2700 Palästinenser getötet worden, 60 Prozent von ihnen seien Frauen und 25 Prozent Kinder.
Bodenoffensive steht bevor
Lüders geht im Video auf die Entstehung der Hamas und ihre Angriffsmotive ein sowie auf die Geschichte des Verhältnisses zwischen Israel und Palästina und die aktuelle politische Gemengelage (ab Min. 12:00). Nun stehe eine israelische Bodenoffensive bevor:
«Es wird ein furchtbares Blutbad geben. (...) Es wird enorme Konsequenzen haben für die Wahrnehmung Israels in der arabisch-islamischen Welt. Es steht zu befürchten, dass in diesem Konflikt, genau wie im Ukraine-Krieg, die Meinung der Welt geteilt sein wird. Die westlichen Staaten haben eine klare Meinung in Sachen Ukraine, in Sachen Israel, und weichen davon nicht einen Millimeter ab, egal wie brutal das sein mag, was Israel dann veranstaltet.»
Die grosse Gefahr bestehe in einer schnellen Eskalation. Die Hisbollah und Iran hätten angekündigt, exzessive israelische Gewalt nicht zu akzeptieren. Sofern es zu einem grossen Krieg komme, werde man in Israel geneigt sein, mit der Unterstützung der USA, von Beirut bis Gaza «gründlich aufzuräumen».
Vorwürfe, der Iran habe die Hamas zum Angriff ermutigt, liessen sich bislang nicht beweisen, so Lüders. Mit solchen Aussagen müsse man vorsichtig sein, denn sie könnten einen Krieg gegen den Iran rechtfertigen. Iran habe mit Russland und China zwei starke Verbündete.
«Wenn Israel und oder die USA den Iran angreifen sollten, dann explodiert der Nahe Osten. (...) Dann kann alles passieren. Das kann auch zu einem Dritten Weltkrieg führen.»
Der Kern sei das ungelöste Palästina-Problem. Der Kern des Konflikts sei, dass die westlichen Staaten, die sonst gerne von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten schwadronieren, ihre Heuchelei im Kontext Israel-Palästina so offenbaren wie bei keinem anderen Konflikt. Denn sie würden sich auf die Seite eines Staates stellen, der seit 1967 Siedlungskolonialismus betreibe.
Nicht frei von Heuchelei
Der westliche Moralismus sei alles andere als frei von Heuchelei, denn der westliche Krieg gegen den Terror habe in unzähligen Ländern der arabischen Welt während vergangener Jahre Verwüstungen angerichtet. Die Bilder davon seien den Menschen allzu präsent, deshalb sei die überschwängliche moralische Pro-Israel-Haltung des Westens im Nahen Osten kaum vermittelbar.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verurteile zurecht das russische Vorgehen in der Ukraine. Die vorsätzliche Zerstörung von ziviler Infrastruktur sei ein Kriegsverbrechen, so Lüders. Eine ähnliche Verurteilung des israelischen Vorstosses auf den Gaza-Streifen habe sie anlässlich ihres kürzlichen Besuches dort jedoch unterlassen. Lüders:
«Die westlichen Staaten haben de facto der israelischen Führung unter Netanjahu einen Freibrief gegeben, nach Belieben den Gaza-Streifen zu zerstören.»
Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichne sich als Faschisten. Seine Haltung: Entweder akzeptieren die Palästinenser ihren Status als rechtlose Individuen unter israelischer Kontrolle, sie emigrieren oder müssen mit den Konsequenzen (heisst: Vertreibung, Ermordung) leben. Lüders:
«Haben Sie schon einmal gehört, dass einer der hiesigen Minister oder Politiker solche Aussagen verurteilt hätte? Und wenn dann Frau Baerbock oder Herr Scholz sagt ‹Wir sind alle Israelis›, dann beinhaltet das ‹Wir sind alle Herr Smotrich›.»
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