Teil 1 von Sabiene Jahns Artikel finden Sie hier.
Dieser Beitrag ist zuerst am 28. Juli 2025 auf Globalbridge erschienen.
***
Wenn Dmitrij Wasilez über Volksentscheide spricht, dann tut er das nicht im juristischen Vakuum. Er tut es mit dem Blick eines Menschen, der den historischen Referenzrahmen kennt und ihn ernst nimmt. Für ihn ist das Recht zur Selbstbestimmung nicht nur ein juristisches Konstrukt, sondern ein existenzielles Ausdrucksmittel eines Volkes. Und ein Ausdruck politischer Aufrichtigkeit. «Man kann sehr viel spekulieren, was ein Volksentscheid ist, ob das rechtens ist oder nicht», sagt er. «Trotzdem haben wir gesehen, es wurde ein Referendum abgehalten – mit der Einladung von vielen internationalen Pressevertretern und Beobachtern.» Gemeint ist das Krim-Referendum von 2014 – und später die Abstimmungen in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk.
Wasilez betont, dass auf der Krim «kein einziger Schuss gefallen ist». Für ihn ist das ein Indikator dafür, dass der Wille der Bevölkerung tatsächlich vorhanden war. Er kennt die Region gut. «Ich bin zu 99 Prozent sicher, dass das Referendum genau mit diesen Zahlen endete. Die Stimmung war eindeutig. Die Menschen wollten nichts mehr mit dem Putsch-Regime in Kiew zu tun haben.» Er verweist auf den historischen Ausgangspunkt des ukrainischen Staates:
«Die Ukraine ist selbst durch ein Referendum entstanden. 1991 – beim Unabhängigkeitsreferendum am 1. Dezember – haben die Menschen dafür gewählt, sich von der Sowjetunion zu trennen. Doch wenige Monate zuvor, im März, hatten dieselben Menschen noch mit großer Mehrheit für deren Erhalt mit autonomen Republiken gestimmt.»
Die Logik ist für Wasilez eindeutig: Wenn sich ein Staat auf den Volkswillen beruft, kann er dieses Recht nicht selektiv gewähren oder entziehen. Ein Referendum auf der Krim oder im Donbass ist in seinen Augen weder völkerrechtswidrig noch illegitim – sondern eine Fortsetzung jenes Prinzips, auf dem die Ukraine selbst gegründet wurde. «Wenn das erste Referendum als bindend galt – warum nicht auch das zweite?» Er erkennt an, dass das ukrainische Grundgesetz keine Sezession vorsieht. Doch für ihn steht über der Verfassung das natürliche Recht der Menschen, sich einer Regierung zu entziehen, die sie nicht gewählt haben und die sie unterdrückt.
«Was zählt – ist nicht der juristische Rahmen allein, sondern ob ein Volk sich gehört fühlt. Die Bevölkerung wollte keinen NATO-Kurs, keine Oligarchenregierung, keine Entmündigung durch fremde Botschaften.»
Wasilez geht weiter. Er erinnert daran, dass Selenskyj in seiner eigenen Wahlkampagne versprochen hatte, Volksentscheide zu ermöglichen. «Jetzt sehen wir, dass er gegen jede Form von Referendum auftritt, gegen den Volkswillen, und mit militärischen Mitteln und mit Unterstützung des Westens alle Bemühungen in diese Richtung unterdrückt.» Der Satz, den Wasilez dabei ausspricht, hat Gewicht: „Das Wahlprogramm von Selenskyj wird heute von Putin realisiert.“
Es ist keine Provokation, sondern eine nüchterne Beobachtung: Während Kiew jede Form direkter Demokratie mit Terror beantwortet, ermöglicht die russische Föderation – unter internationalem Protest – Abstimmungen in den ehemals ukrainischen Gebieten. Wasilez verteidigt das nicht pauschal, aber er stellt eine wesentliche Frage: Warum darf ein Staat, der sich als demokratisch versteht, nicht akzeptieren, dass ein Teil seiner Bevölkerung sich abwenden will – wenn er selbst auf eben diesem Recht gegründet wurde? Die Antwort liegt für ihn in der Angst vor Legitimität.
«Wenn das ukrainische Volk heute selbst entscheiden dürfte, wie es leben will – dann würden viele sagen: Nicht so. Nicht mehr so. Nicht in diesem Krieg, nicht unter dieser Regierung.»
Für Wasilez ist der Ukrainekrieg keine lokale Auseinandersetzung. Er ist Ausdruck eines tiefen globalen Konflikts: der zwischen einer alten Weltordnung – dominiert vom Westen – und einer neuen, multipolaren Welt, die versucht, sich gegen dieses Machtgefüge aufzulehnen. «Wenn man den offiziellen Politikern aus England und den USA zuhört», sagt er, «dann sagen sie ganz offen, dass der Krieg in der Ukraine der Kampf für den Erhalt der internationalen Herrschaft der USA ist.» Er verweist auf Äußerungen von Liz Truss, von US-Regierungsvertretern und von Ökonomen.
Auch Putin, sagt Wasilez, habe die wahren Gründe des Krieges benannt: das Dollar-Kreditsystem, das andere Länder in Schuldknechtschaft zwingt. «Die westlichen Länder sind zu Parasiten geworden. Sie leben vom Zugriff auf Ressourcen, Märkte, Menschen.» Und: «Russland kämpft um seine Souveränität. Es geht nicht nur um Grenzen. Es geht um den Versuch, sich von einem System der kolonialen Ausbeutung zu befreien.» Diese Sichtweise mag im Westen als russische Propaganda gelten. Doch Wasilez spricht sie aus – nicht als Funktionär, sondern als Ukrainer, der acht Jahre lang beobachtet hat, wie sein eigenes Land als Bühne westlicher Interessen zugerichtet wurde.
«Die Ukraine wird benutzt. Als Opfer, als Waffe, als Trümmerfeld.» Und dabei sterben nicht nur Soldaten. Es stirbt, was ein Staat sein sollte: eine Form kollektiven Schutzes. «Jeder klar denkende Bürger wird alles tun, damit diese Okkupanten aus unserem Land verschwinden. Es geht nicht darum, wer besser schießt – sondern wer überhaupt noch etwas zu sagen hat.»
Wasilez ist kein Diplomat. Er ist auch kein pazifistischer Mahner. Er ist ein Mann, der vieles verloren hat – und dennoch spricht. Nicht, weil er sich der Hoffnung hingibt, sondern weil er den Zustand der Welt benennt, wie er ihn sieht. Seine Sprache ist klar, direkt, moralisch verankert – und für westliche Ohren ungewohnt kompromisslos. «Wenn wir nicht zu einer multipolaren Welt übergehen», sagt er, «dann erwartet die Menschheit in naher Zukunft die Vernichtung.» Wasilez spricht nicht von einer ideologischen Dystopie, sondern von konkreten Entwicklungen: der ökonomischen Ausbeutung ganzer Kontinente, der militärischen Destabilisierung durch NATO-Strukturen, der instrumentellen Zerstörung von Staaten wie Libyen, Irak, Syrien – und nun der Ukraine.
Er analysiert die Dynamik einer Weltordnung, die sich selbst als liberal und demokratisch beschreibt, aber in der Praxis immer wieder autoritäre Regime stützt, wenn sie den eigenen Interessen dienen. «Man darf nicht gut leben, wenn andere hinterm Zaun hungern. Und wenn diese Ordnung sich nur durch Kontrolle und Gewalt aufrechterhalten lässt – dann ist es keine Ordnung, sondern ein System der Erpressung.»
Das Imperium, gegen das Wasilez anredet, hat keine Hauptstadt, sondern Kreditgeber. Es hat keine Armee im klassischen Sinn, es hat Strukturen, Verträge, Geheimdienste und Medienmacht. Und es hat eine enorme Fähigkeit, Dissidenz unsichtbar zu machen. Doch:
«Wenn nicht immer mehr Länder sich dem Kampf gegen dieses System anschließen, wenn wir weiter glauben, dass man mit Kompromissen gegen Unterdrückung gewinnen kann – dann wird der Westen seine Kontrolle ausweiten. Und es wird keine Weltmacht mehr geben, die ihm etwas entgegensetzt.»
Wasilez spricht über Lateinamerika, über Afrika, über China und Indien – über jene Teile der Welt, die nicht länger bereit sind, sich in die ökonomischen Muster westlicher Vorherrschaft fügen zu lassen. Er spricht über die Entstehung einer «Front der Gerechtigkeit» – nicht im Sinn eines ideologischen Blocks, sondern im Sinn eines zivilisatorischen Korrektivs. Er sagt:
«Wenn Russland fällt – fällt der Rest. Dann werden Lateinamerika und Afrika auf Jahrzehnte zurückgeworfen. Dann wird niemand mehr existieren, der dem Imperium des Kapitals widersteht.»
Es ist ein Gedanke, den man teilen oder ablehnen kann. Aber es ist ein Gedanke, der Konsequenz verlangt. Denn er führt zu einer zentralen Frage: Was ist unsere Aufgabe?
Dmitrij Wasilez wurde in der Ukraine verurteilt, weil er berichtete. Zwei Jahre und drei Monate Haft. Ohne Anklage. Er wurde als «Informationsterrorist» eingestuft. Eine Wortwahl, die alles sagt. Wer heute berichtet, was nicht berichtet werden darf, wird nicht als Journalist wahrgenommen, sondern als Gefahr – als Störung oder Feind.
«Ich war kein Kämpfer. Ich war Journalist. Ich habe nur gesagt, was ich gesehen habe. Und das reichte aus, um mich zu inhaftieren.»
Diese Aussage ist für europäische Medienmenschen kaum fassbar und doch ist sie das stillschweigende Echo unserer Zeit. Nicht nur in Kiew, sondern auch in Brüssel, Berlin, Paris. Wo immer die Wahrheit die Macht berührt, wird sie unter Verdacht gestellt. Wasilez hat überlebt.
Es wäre zu einfach, Dmitrij Wasilez als «Stimme aus dem Exil» zu zitieren, und dann zum Alltag zurückzukehren. Zu einfach, seine Aussagen mit geopolitischen Floskeln abzuwägen.
Wasilez verlangt kein Urteil, er verlangt schlicht Erinnerung. Er erinnert uns daran, dass ein Staat ohne Souveränität nur Kulisse ist. Dass eine Demokratie ohne Opposition keine Demokratie ist. Und dass ein Krieg, der im Namen von Freiheit geführt wird, aber jede abweichende Stimme zum Verstummen bringt, kein Befreiungskrieg ist – sondern eine Verlängerung der Gewalt. Vielleicht ist das die eigentliche Zumutung dieses Berichts: dass wir uns entscheiden müssen. Nicht zwischen Russland und der Ukraine. Sondern zwischen Wahrheit und Verdrängung. Oder, wie Wasilez es selbst sagt:
«Wir leben in einer historischen Zeit. In dieser Zeit muss jeder entscheiden, auf welcher Seite er steht – auf der Seite der Gerechtigkeit. Oder auf der Seite der Lüge.»
Das Interview zwischen Dmitrij Wasilez und Patrik Baab ist kein isoliertes Zeitdokument. Es ist ein geopolitischer Röntgenblick – in eine Ukraine, die bereits 2023 nicht mehr souverän war, sondern ein Experimentallabor westlicher Kontrolle. Zwei Jahre später ist aus dieser Kontrolle ein unumkehrbarer Zustand geworden. Die Ukraine ist faktisch zahlungsunfähig, ihr Land, ihre Infrastruktur, ihre Arbeitskraft vertraglich verpfändet.
Europa hat keine Strategie entwickelt, sondern sich untergeordnet. Deutschland hat seine industrielle Grundlage verloren, nicht durch Krieg, sondern durch politische Entscheidungen im Windschatten einer imperialen Allianz. Doch der entscheidende Irrtum liegt tiefer: Die Vorstellung, dass Russland der Aggressor sei, der diese Ordnung zerstört. Tatsächlich ist Russland der einzige verbliebene Akteur, der dem westlichen Kontrollsystem noch widerspricht – mit ökonomischer, diplomatischer und militärischer Kraft.
Nicht weil es moralisch überlegen wäre, sondern weil es ein anderes Modell verteidigt: eines, in dem staatliche Souveränität, wirtschaftliche Selbstständigkeit und Vertragstreue noch gelten sollen. Der Westen führt keinen Krieg gegen Russland, weil es gefährlich wäre. Er führt ihn, weil Russland nicht gehorcht. Weil Russland nicht liberalisiert, nicht kolonisiert, nicht «transformiert» werden will. Russland akzeptiert keine offenen Gesellschaften, in denen Konzerne regieren, Gerichte nach außen verhandelt werden und Kriege mit Narrativen statt mit Verträgen geführt werden. In dieser Ablehnung liegt keine Rückständigkeit, sondern vielleicht die letzte Erinnerung an eine Welt, in der Macht noch an Verantwortung gebunden war.
Russland steht auch nicht für Krieg, sondern für die letzte Möglichkeit einer multipolaren Welt nach dem Krieg – einer Welt, in der Europa nicht Transitkorridor für Waffen, Schulden und Ideologie ist, sondern souveräner Akteur und Friedensstifter. Um zu verhindern, dass dieser Konflikt Deutschland vollständig verzehrt, braucht es mehr als Appelle: Strukturen auf lokaler, föderaler, wirtschaftlicher und juristischer Ebene. Landesregierungen sollten Völkerrecht geltend machen anstatt NATO-Recht, Kommunen sich gegen kriegsvorbereitende Infrastruktur verweigern, die Industrie Alternativen schaffen wie regionale Netze und selbstbestimmte Handelsachsen, Journalisten müssen endlich aufhören zu schweigen – Russland zu verstehen ist keine Verräterei, sondern Voraussetzung für Klarsicht.
Wer Russland dämonisiert, verteidigt nicht Europa, sondern ein System, das es für Profite, Abhängigkeit und Hegemonie opfert. Wer es strategisch begreift, erkennt: Russland kämpft um das Überleben Europas. Wer diese Sicht verweigert, verliert nicht nur den Krieg, sondern die Fähigkeit, Frieden zu denken.
Sabiene Jahn studierte Kommunikation der Werbewirtschaft und arbeitet als Journalistin, Moderatorin, Sängerin und Synchronsprecherin. Sie beschäftigt sich mit gesellschaftspolitischen Themen sowie der Recherche extremistischer Strukturen. Jahn organisiert die parteifreie Veranstaltungsreihe «Koblenz: Im Dialog», um gesellschaftspolitischen Austausch zu fördern. Als Friedensaktivistin entwickelt sie Konzepte zur Deeskalation und Inklusion. Zudem leitet sie das internationale Musikensemble «Nobel Quartett».