Als einen gelungenen «Coup» der Ukraine hat der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat den ukrainischen Drohnenangriff auf die strategische Bomberflotte Russlands am Sonntag bezeichnet. Zugleich wies er in einem Interview, das er dem Online-Magazin NachDenkSeiten am Montag gab, darauf hin, dass «dieser Angriff keine nennenswerten Auswirkungen auf die Lage an der Front oder die Verteidigung der Ukraine gegen russische Luftangriffe» habe. Die militärische Lage der Ukraine spitze sich weiter zu, erklärte er.
Es sei noch unklar, wie viele Flugzeuge der interkontinental-strategischen Bomberflotte Russlands zerstört wurden und um welche Typen es sich genau handele, so Kujat. Aber die Möglichkeiten Russlands, Marschflugkörper gegen die Ukraine einzusetzen, würden nur «etwas einschränkt», aber ohne strategische Auswirkungen.
Der Ex-General erinnerte daran, dass es bereits 2022 und Anfang 2025 ukrainische Angriffe auf die Basis in Engels bei Saratow in Russland gab. Auch dort sind strategische Langstrecken-Bomber stationiert. 2024 sei zudem das russische Frühwarnsystem angegriffen worden, das einen Angriff mit Atomwaffen melden soll.
Es liege nahe, dass mit solchen Angriffen versucht werde, den Krieg auszuweiten, indem eine scharfe russische Reaktion provoziert wird, die ein Eingreifen des Westens auslösen könne. «Das wäre eine sehr gefährliche Entwicklung», fügte Kujat hinzu.
Er verwies außerdem auf das Risiko, dass eine Drohne fehlgeleitet wird und ein Lager mit Nuklearsprengköpfen neben den Flugplätzen trifft. Es handele sich um ein «höchst riskantes Spiel, das hier betrieben wird».
Für entscheidend hält Kujat, dass der jüngste Angriff in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur zweiten Verhandlungsrunde zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul erfolgte. Er stehe offenbar im Zusammenhang mit den gleichzeitigen Anschlägen auf die russische Eisenbahn kurze Zeit zuvor, was auf eine koordinierte Aktion hindeute.
Das könne «nur bedeuten, dass man möglicherweise damit gerechnet hat, die russische Seite würde als Reaktion auf diese Angriffe die Verhandlungen absagen». Dabei habe Russland selbst die Verhandlungen vorgeschlagen, während immer behauptet werde, es wolle gar nicht verhandeln.
Nach den Angriffen und vor Beginn der Gespräche in Istanbul am Montag hatten der US-amerikanische und der russische Außenminister, Marco Rubio und Sergej Lawrow, erneut miteinander telefoniert. Das ist für den ehemaligen obersten Bundeswehr-Offizier «ein klares Indiz dafür, dass die USA diese Verhandlungen zumindest weiterhin begleiten und sich nicht vollständig zurückgezogen haben – was ich für sehr wichtig halte».
Zur Frage, wie ein Angriff mit den ukrainischen Drohnen aus zivilen LKWs auf russischem Territorium möglich sei, verwies er darauf, dass in keinem Land Fahrzeuge flächendeckend kontrolliert werden. Bei einer sorgfältigen Vorbereitung sei dann auch eine solche Operation möglich. Kujat widersprach der Ansicht, dass es sich um einen großen militärischen Erfolg handelt:
«Nein, es handelt sich um Anschläge, nicht um eine militärische Aktion im eigentlichen Sinne. Solche Anschläge sind in jedem Land möglich.»
Er verwies außerdem auf den New-START-Vertrag zwischen den USA und Russland von 2010 zur Begrenzung der Atomwaffen. Dieser verpflichte beide dazu, strategische Bomber auf bestimmten Flugplätzen so zu positionieren, dass sie für die vereinbarten Inspektionen sichtbar sind. Das geschehe in offenen Hangars oder auf dem Rollfeld und diene als Teil der gegenseitigen Vertrauensbildung der Überprüfbarkeit, ob der Vertrag eingehalten wird. Die Flugzeuge seien damit jedoch gut zu bekämpfende Ziele.
Zu den Vermutungen, dass westliche Dienste mit Hilfe von Satellitenbildern geholfen haben könnten, sagte der Ex-General:
«Wenn Daten für bewegliche Ziele praktisch zeitverzugslos bereitgestellt werden, können sie nicht von den Ukrainern stammen, sondern müssen von anderer Seite kommen.»
Bei einer langfristig geplanten Aktion sei es mit einfachen Mitteln möglich, die Position eines russischen Flugplatzes eigenständig zu ermitteln. Aber es sei «möglich, dass der Ukraine Lagepläne der Flugplätze aus westlicher Satellitenaufklärung zur Verfügung gestellt wurden».
Er sieht es als positives Zeichen, dass es keine sofortige Reaktion Russlands gab. Die für Montag angesetzten Verhandlungen hätten stattgefunden, «was man als positiv verbuchen sollte».
Es sei sicher, dass Russland zurückschlagen werde, erklärte der frühere ranghöchste NATO-Militär. Er geht aber davon aus, dass es nicht in gleicher Weise reagieren wird, und erläutert:
«Stattdessen wird es wahrscheinlich die Kampfhandlungen auf dem Gefechtsfeld intensivieren und die Luftangriffe zur Schwächung der ukrainischen Verteidigung verstärken. Da die Lage der Ukraine ohnehin äußerst kritisch ist, und wenn Russland zusätzliche Anstrengungen unternimmt, wird sich die militärische Lage erheblich zulasten der Ukraine verändern.»
Aber aufgrund einer anderen Eskalationsstrategie sei die russische Reaktion so unvorhersehbar. Sie hänge davon ab, welche strategischen Ziele Moskau verfolgt:
«Wenn das Ziel eine schnelle und totale Niederlage der Ukraine wäre, fiele die Reaktion anders aus, als wenn Russland weiterhin eine Verhandlungslösung des Krieges als primäre Option anstrebt. Bislang sehen wir Letzteres. Wir können nur hoffen und erwarten, dass dies so bleibt und keine Reaktion erfolgt, die jede Verhandlungsmöglichkeit zunichte macht.»
Zahlreiche Beobachter fürchten, dass die Welt mit dem ukrainischen Angriff dem Atomkrieg wieder ein Stück näher gerückt ist. Kujat bezweifelt das und bezeichnete es als entscheidend, «dass die beiden nuklearen Supermächte ihre Verbindung aufrechterhalten».
Es sei «von höchster Wichtigkeit, dass Aktionen Dritter, wie in diesem Fall die der Ukraine, von beiden Nuklearmächten korrekt eingeordnet werden», erklärte er dazu. Die USA und Russland würden «weiterhin das übergeordnete Interesse, einen nuklearen Schlagabtausch zu verhindern» verfolgen.
«Das ist der entscheidende Punkt: Man darf sich nicht in eine ungewollte Eskalationsspirale hineinziehen lassen», so Kujat.
Deshalb sei es «absolut essenziell», dass diese Verbindung – der «heiße Draht» – zwischen den beiden Seiten aufrechterhalten werde. Der Ex-General verwies am Ende des Interviews darauf, dass Endpunkt dieser bilateralen Verbindung in Russland das «Nuclear Risk Reduction Center». Dieses selbstgewählte Etikett stehe für die deeskalierenden Maßnahmen zwischen diesen beiden Supermächten.
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