Bei ihrem Angriff auf Israel hat die Hamas auch Zivilisten umgebracht, darunter Kinder. Das ist laut der Genfer Konvention ein Kriegsverbrechen, keine Frage. Solche Taten sind nicht mehr Teil des Völkerrechts, das den bewaffneten Widerstand gegen eine Kolonialherrschaft als legitim erachtet.
Zahlreiche Medien berichteten nun, dass die palästinensische Organisation sogar Babys enthauptet hätte. Sie beriefen sich auf eine Aussage eines israelischen Reservesoldaten gegenüber der Reporterin Nicole Zedek vom israelischen staatlich geförderten Sender i24.
Zuvor hatte Zedek während einer Live-Reportage aus dem Kibbuz Kfar Aza erklärt, dass «etwa 40 Babys auf Bahren herausgetragen» und «Kinderbetten umgeworfen» worden wären. Zedeks Bericht wurde auf Twitter Dutzende Millionen Mal aufgerufen und vom israelischen Aussenministerium gefördert. CNN-Korrespondent Nic Robertson sprach sogar von «Hinrichtungen im Stil vom [Islamischen Staat, kurz] ISIS».
Quelle: Telegram (The Times, The Independent, Daily Express, Metro)
Diese Geschichte erinnert an die sogenannte «Brutkastenlüge», die den USA als entscheidende Rechtfertigung diente, beim Zweiten Golfkrieg zu intervenieren. So hatte 1990 die fünfzehnjährige Nayirah as-Saba behauptet, irakische Soldaten hätten bei der Invasion Kuwaits im August eben dieses Jahres kuwaitische Frühgeborene getötet. Dabei hätten sie die Kleinstkinder aus ihren Brutkästen gerissen und sie auf dem Boden verrecken lassen.
Später stellte sich jedoch heraus: Nayirah ist die Tochter des kuwaitischen Botschafters Saud Nasir as-Sabah in den USA und Kanada sowie Mitglied der Herrscherfamilie Kuwaits. Wie sogar Wikipedia konzediert, war die Geschichte «frei erfunden».
Der Fall zeigt, dass angebliche Grausamkeiten gegenüber Kindern zum Casus Belli werden können, also zum entscheidenden Grund für eine Kriegserklärung. Entsprechend werden sie von Kriegstreibern oder -parteien propagandistisch ausgeschlachtet.
Was die Babys in Israel angeht, so erklärte der Sprecher von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dass Säuglinge und Kleinkinder mit «enthaupteten Köpfen» gefunden worden seien. Selbst US-Präsident Joe Biden wies auf «erschütternde Berichte über Babys hin, die getötet wurden». Er habe Bilder von Terroristen gesehen, «die Kinder enthaupten». Und auf seiner gestrigen Pressekonferenz in Tel Aviv betonte der US-Aussenminister Antony Blinken die «Verdorbenheit» der Hamas gegenüber Babys. Eine «Litanei an Brutalität und Unmenschlichkeit» lasse an «das Schlimmste von ISIS» denken.
Vorsicht ist hier aber gleich in mehrfacher Hinsicht geboten. So ist zunächst festzustellen, dass i24-Reporterin Zedek Stunden später ihre Aussage mit den Worten relativierte:
«Soldaten haben mir gesagt, dass sie glauben, dass 40 Säuglinge/Kinder getötet wurden. Die genaue Zahl der Toten ist noch nicht bekannt, da das Militär weiterhin von Haus zu Haus geht und weitere israelische Opfer findet.»
Wie der Insider berichtete, will die israelische Armee (IDF) zudem die Behauptung, Hamas habe Babys enthauptet, nicht bestätigen. Ein Sprecher sagte nur, dass die Zeugenaussagen der Soldaten als Beweis ausreichen würden. Es wäre «respektlos gegenüber den Toten», sich zum Zustand der Leichen zu äussern.
Oren Ziv, ein israelischer Reporter, der an der offiziellen Tour des Militärs durch Kfar Aza teilnahm, kommentierte auf X:
«Ich erhalte viele Fragen zu den Berichten über ‹von der Hamas enthauptete Babys›, die nach der Medientour in dem Dorf veröffentlicht wurden. Während der Tour haben wir keine Beweise dafür gesehen, und der Armeesprecher oder Kommandeure erwähnten auch keine derartigen Vorfälle.»
Auch die Zeit räumte ein, dass es «bislang keine Klarheit über angeblich 40 getötete Babys» gebe.
Zweifel sind an der Zahl von 40 toten Babys sowieso angebracht: Laut Wikipedia lebten in Kfar Aza 2021 lediglich 765 Menschen. Gemäss der Statistik des gesamten Landes für 2022 müssten in dem Kibbuz während der letzten 12 Monate 15 Kinder geboren worden sein. Die Geburtenrate müsste dort also schon bei 40 Kindern erheblich vom nationalen Durchschnitt abweichen. Wenn man zudem berücksichtigt, dass Berichten zufolge etwa 10 Prozent der Bewohner ums Leben gekommen sind, müsste das Kibbuz sogar 400 Babys aufgewiesen haben. Ausser: die Hamas-Kämpfer töteten spezifisch Neugeborene und liessen die anderen am Leben.
Obendrein deckten Max Blumenthal und Alexander Rubinstein in The Grayzone auf: Bei dem israelischen Reservesoldaten, der die Behauptung in Umlauf brachte, handelt es sich um einen fanatischen Siedlerführer, der früher zu Unruhen aufrief, um ein palästinensisches Dorf «auszulöschen». In einem Post macht David Ben Zion klar, es gebe «keinen Platz für Gnade». Israelische Medien zitierten Ben Zion folgendermassen:
«Das Dorf Huwara sollte ausgelöscht werden. Dieser Ort ist ein Nest des Terrors, und die Strafe sollte für alle gelten.»
Wie Blumenthal und Rubinstein feststellen, ist das ein klarer Aufruf zur kollektiven Bestrafung der Palästinenser. Das Portal teilt mit, dass Ben Zions Tweet von Israels damaligem Finanzminister Bezalel Smotrich «geliked» wurde. Das habe 22 Rechtsgelehrte dazu veranlasst, den Generalstaatsanwalt aufzufordern, eine Untersuchung gegen den Beamten wegen «Anstiftung zu Kriegsverbrechen» einzuleiten. Als Smotrich sich später Ben Zion angeschlossen und im folgenden Monat dazu aufgerufen habe, Huwara «auszulöschen», hätte das US-Aussenministerium seine Rhetorik als «gefährlich» verurteilt. Die beiden Autoren weiter:
«Das Dorf Huwara war damals das Ziel gewalttätiger Ausschreitungen von Siedlern, die unter der Aufsicht von Ben Zion operierten. Nach dem Angriff der Siedler auf den Ort, bei dem zahlreiche Häuser und Fahrzeuge in Brand gesteckt und Einwohner verletzt wurden, bezeichnete die Hamas den Angriff als ‹Kriegserklärung›.»
Das Portal offenbart weitere Aufrufe Ben Zions zu Verbrechen gegen Palästinenser. Er habe über seine Social-Media-Konten wiederholt zu Kriegsverbrechen und zur «Deportation der [palästinensischen] Massen» aufgerufen. Im Jahr 2016 schrieb er:
«Das palästinensische Volk ... [ist] ein Feind. Wir können ihre barbarische DNA nicht ändern.»
Während seiner gescheiterten Kampagne für die israelische Knesset im Jahr 2021 mit der Pro-Siedler-Partei «Jüdisches Heim» beschrieb Ben Zion seine Mission wie folgt:
«Ich bin der Aufgabe verpflichtet, die politische Heimat des religiösen Zionismus wiederherzustellen.»
Blumenthal und Rubinstein konstatieren, dass Ben Zion seit Jahren an der Spitze des Siedlerextremismus zu stehen scheine. So zeigt ein Foto aus dem Jahre 2015, wie er ein Mikrofon für den fanatischen Siedlerideologen Noam Livnat, einem selbsternannten «rechtsradikalen Messianisten», hält.
David Ben Zion und Noam Livnat, 2015; Quelle: The Grayzone
Laut dem Buch «Murder in the Name of God: Das Komplott zur Ermordung von Yitzhak Rabin» hat Rabins Attentäter, Yigal Amir, Livnat «besonders bewundert». Im Jahr 2005 führte Livnat eine Meuterei von 10’000 IDF-Soldaten und Reservisten an, die sich dem Befehl des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon zum Abzug illegaler Siedlungen aus dem Gazastreifen verweigerten.
Ben Zion teilt offenbar Livnats messianische Obsessionen. Im Jahr 2018 nahm er seinen Neffen mit zur al-Aqsa-Moschee, der drittheiligsten Stätte des Islam, die jüdische Extremisten durch einen dritten Tempel ersetzen wollen. Er schrieb dazu:
«Warum gehen Muslime immer noch stolz auf diesen Berg? Es liegt noch viel Arbeit vor uns.»
In einem weiteren Post von der heiligen Stätte schrieb Ben Zion:
«Der Tempelberg ist nicht nur die Vergangenheit des jüdischen Volkes, sondern auch die Zukunft.»
Dann forderte er seine Anhänger auf, für Beyadenu zu spenden, also für eine Organisation, deren Mitglieder Blumenthal und Rubinstein zufolge versuchen, dort Opferlämmer zu schlachten.
Ben Zion scheint auch Noam Livnats Besessenheit von der Zerstörung des Gazastreifens zu teilen. Tage nachdem Israel die Operation «Protective Edge» gestartet hatte, also die 50-tägige Bombardierung des Gazastreifens, die fast 1500 palästinensische Zivilisten das Leben kostete, postete Ben Zion ein Foto auf Facebook, auf dem er selbst und andere IDF-Soldaten vor Artillerie posieren. Diese war so positioniert, dass sie auf Hebräisch den Satz «Das Volk Israel lebt» darstellte. Blumenthal und Rubinstein schliessen daraus:
«Während Netanjahu die dubiose Behauptung geköpfter Babys aufstellt, um seine US-Sponsoren tiefer in seinen Krieg hineinzuziehen, nähern sich Ben Davids apokalyptische Fantasien ihrer Erfüllung.»
In einem Gespräch zeigt sich Blumenthal ausserdem überzeugt, dass das primäre Ziel des Angriffs der Hamas militärische Einrichtungen waren, welche die Belagerung Gazas aufrechterhalten. Das würden die Mainstream-Medien verschweigen. Zivilisten seien gelegene Ziele auf dem Weg dorthin gewesen. Die Geschichten über enthauptete israelische Babys würden zudem davon ablenken, dass israelische Bomben Babys in Gaza getötet hätten.
Die Hamas behauptete derweil, dass Berichte, wonach ihre Kämpfer Kinder enthauptet hätten, unbegründet seien. Ezzat Al Rishq, Mitglied des politischen Büros der Hamas, erklärte laut Al Jazeera:
«Einige westliche Medien verbreiten weiterhin zionistische Verleumdungen und Lügen über unser palästinensisches Volk und seinen Widerstand, sie behaupten fälschlicherweise und verleumderisch, dass Mitglieder des palästinensischen Widerstands Kinder enthauptet und Frauen angegriffen hätten, ohne jegliche Beweise für ihre Lügen und Behauptungen zu haben. Die Hamas verurteilt die unbegründeten Anschuldigungen scharf.»
Marwan Bishara, der leitende politische Analyst von Al Jazeera, hält die Behauptungen ebenfalls für haltlos. Die Los Angeles Times habe die entsprechende Nachricht bereits zurückgezogen. Er weist ausserdem darauf hin, dass diejenigen, die alle Palästinenser als Tiere betrachten und für eine Invasion des Gazastreifens plädieren, den 7. Oktober mit dem 11. September 2001 und Hamas mit Al-Quaida und ISIS gleichstellen.
Demnach existiere die Hamas ausschliesslich, um Juden umzubringen. Es sei also ein Prozess der Dämonisierung seitens Israels und seiner Verbündeten im Gange, um einen Grund für eine Wiederholung der Kriege im Irak und in Afghanistan vorzubringen und der Hamas den Garaus zu machen.
Gemäss Bishara sei ein solcher Vergleich jedoch falsch und sensationalistisch. Zudem führe er zu einer falschen Entscheidung. Er erläuterte:
«Die Hamas hatte im Gegensatz zu Al-Qaida, ISIS usw. eine ganz bestimmte nationalistische Agenda (...). Sie hat keine internationale Agenda. Die Hamas hat immer innerhalb der Parameter des historischen Palästinas agiert. Und auch wenn sie Aktionen unternommen hat, die sicherlich als terroristische Aktionen definiert werden könnten, handelt es sich um eine nationalistische Bewegung, die widerwärtige Taktiken angewandt hat, aber immer innerhalb der Logik des Widerstands gegen diejenigen blieb, die sie als ihre Besatzer der letzten 55 Jahre bezeichnet.»
Bishara zufolge macht sich die Hamas ausserdem Sorgen um ihr öffentliches Image. In den Augen der Hamas sei der Angriff auf Israel ein «kollektives Selbstmordattentat» gewesen. 1400 bis 1500 ihrer Kämpfer seien nicht zurückgekommen und wurden umgebracht. Angesichts dessen, dass andere Lösungsversuche erfolglos geblieben seien, habe die Hamas keine andere Wahl, als Gewalt gegen Israel anzuwenden.
Mit Bezug auf die laufende Bombardierung des Gazastreifens seitens der israelischen Streitkräfte kritisiert Bishara die Vorschläge für eine sichere Passage in den Sinai. Es sei nicht klar, wohin die Flüchtlinge gehen sollten und es gebe keine Garantie, dass sie zurückkommen könnten. Bishara ist der Ansicht, dass eine solche Passage ein Vorwand für eine Vertreibung – und im Sinne Israels sei.
Nachtrag:
Wie die Weltwoche berichtet, hat das Weisse Haus nun Bidens Aussage zurückgenommen, wonach dieser Bilder von Terroristen gesehen haben wollte, «die Kinder enthaupten». Es handle sich dabei nicht um die Wiedergabe seiner eigenen Beobachtungen. Die Aussage sei auf Behauptungen eines Sprechers der israelischen Regierung sowie Medienberichte aus Israel gestützt gewesen.
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