Mit dem am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht wurde das alte Schweizer Vormundschaftsrecht aus dem Jahr 1907 ersetzt und modernisiert. Die neuen Regelungen sowie die Institution der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) stehen seither allerdings heftig und meist nicht zu Unrecht in der Kritik. Jasminka Brcina, Präsidentin der Kinder- und Erwachsenenschutzvereinigung (KESV), hat mit Transition News über die Lage gesprochen. Am Anfang des Interviews kommt gleich ein Telefonanruf von einer Mutter rein, der soeben im Spital das Kind weggenommen wurde.
Frau Brcina, Sie sprechen von systematischer Entrechtung durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) in der Schweiz. Was erleben Sie konkret?
Jasminka Brcina: Seit nun 15 Jahren begleite ich Fälle von Eltern, denen oft ohne akute Gefahr ihre Kinder entzogen werden. Die KESB greift oft per superprovisorischer Verfügung ein. Was ist eine superprovisorische Verfügung? Mit diesem Instrument kann die KESB entscheiden und den Entscheid vollziehen, ohne den Betroffenen auch nur anzuhören. Also ohne das rechtliche Gehör zu gewähren.
Natürlich kann man dagegen rekurrieren. Aber da ist der Schaden meist schon angerichtet und die Kinder sind schwerst traumatisiert. Sobald jemand ins Visier gerät, geht es nicht mehr um Lösungen – sondern um Macht. Es wird entschieden, nicht nach Lösungen gesucht. Das füttert ein System, das vor allem der Sozialindustrie nützt: Gutachter, Pflegefamilienorganisationen, Anwälte – alle verdienen daran. Die Betroffenen bleiben auf der Strecke.
Sie selbst waren auch betroffen. Was ist passiert? Wie kommen Sie als einstmalige Architektin HTL dazu, sich für KESB-Opfer einzusetzen? Und das bisher unentgeltlich.
Ich war im achten Monat schwanger, als mein damaliger Partner sich an meine Psychiaterin wandte. Ich hatte einen Burnout und wurde unter dem Vorwand meines Ex-Partners zu einer Psychiaterin geführt, wo ich dachte, dass es eine Paartherapie geben würde. Es gab ein dreiminütiges Gespräch mit einem von der Psychiaterin bestellten Amtsarzt, wo das Zimmer bereits im Vorfeld abgeschlossen wurde. Dann wurde ich unter dem Vorwand zu meinem «Schutz» von der Polizei abgeführt – das ging alles sehr schnell, ohne eine tatsächliche Abklärung. Plötzlich war ich in der Psychiatrie, kam jedoch nach drei Tagen wieder raus. Danach begann die Hetzjagd auf mich und mein Kind. Der Kampf dauerte sieben Jahre! Dreimal versuchte man, mir mein Kind zu nehmen. Alle Berichte waren voller Unterstellungen. Ich war plötzlich wehrlos – eine Erfahrung, die viele teilen.
Ich konnte verhindern, dass man mir das Kind wegnimmt; ich bin rhetorisch stark und verhielt mich offenbar geschickt. Das hat mir aber sehr stark zugesetzt.
Sie sagen, viele Entscheidungen basieren nicht auf Fakten, sondern auf subjektiven Einschätzungen. Wie gefährlich ist das?
Extrem gefährlich. Berichte der Beistände werden von der KESB und von Gerichten oft eins zu eins übernommen. Sie werden nicht auf ihre Substanz überprüft und als bare Münze gewertet, als ob es sich um objektive Fakten handeln würde. Aber wir sehen: Diese Einschätzungen sind oft voreingenommen oder unvollständig. Und sie schaffen Tatsachen – ohne, dass sie mit den Aussagen der Betroffenen abgeglichen werden. Wer einmal falsch im Fokus ist, kommt nur schwer wieder raus. Das Problem ist einfach, dass es niemals um Hilfeleistungen geht, sondern immer nur um Entrechtung und Entmündigung.
Sie haben es sich dann zur Mission gemacht, Betroffenen zu helfen. Nach dem Burnout konnten Sie nicht mehr arbeiten. Was sind besonders kritische Fälle, die Sie begleiten oder begleiteten?
Der Bieler KESB-Fall Sarah C. war beispielsweise ein Fall den man aufarbeiten müsste. Dort entzog man einer schwangeren Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, noch während sie in einer psychiatrischen Klinik festgehalten wurde. Also während sie zum eigenen «Schutz» und dem «Schutz» des Ungeborenen in die Psychiatrie eingewiesen wurde, versetzte man sie noch weiter in Angst und entzog ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht über das im Bauch Wohlbehütete. Wie viel Schutz braucht ein Mensch, dass er dermaßen traumatisiert wird und damit, durch die unnötige Panik der werdenden Mutter, auch ein Ungeborenes Schaden erleiden muss? Das sind die heutigen Zwangsmaßnahmen, von denen niemand spricht.
Es gab auch Fälle, wo zum Beispiel ein Jugendlicher sich in einer Klinik umgebracht hatte, weil die KESB der Mutter das Kontaktrecht entzogen hatte. Auch solche Kontaktrechtseinschränkungen werden als Kindesschutz ausgelegt.
Dann gibt es regelmäßig Jugendliche, die aus Jugendheimen flüchten und nach Hause wollen, aber danach polizeilich ausgeschrieben werden und wie Strafgefangene ins Heim zurückgeführt werden. Es gibt keine Stelle, an die sich ein Jugendlicher wenden kann, um die Problematiken und Sorgen, die er hat, anzugehen.
Kinder und Jugendliche, aber auch wehrlose Erwachsene sind dem Fürsorgesystem regelrecht ausgeliefert. In einem aktuellen Fall will man eine 13-Jährige gegen den Willen der Ärztin, des Schulleiters und des involvierten Familienbegleiters aus der Familie reißen und in eine Klinik zwingen, wonach sie danach in ein Schulheim platziert werden kann. Wir erleben immer wieder, dass nicht das Kindeswohl, sondern systemische Interessen und krankhafte Ideologien im Vordergrund stehen.
Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Ich nenne das «strategisch-taktische Prozessbegleitung». Ich arbeite eng mit den betroffenen Eltern, begleite sie durch jeden Schritt, lese jedes Schreiben, formuliere Antworten. Emotionen müssen zurückgestellt werden – das System wertet sie als Schwäche. Behörden beleidigen, funktioniert nicht, sie sind am längeren Hebel.
Ich coache – da geht es um Fälle, die nicht akut sind. Ein Beispiel: man will eine Rückplatzierung des eigenen Kindes. Das geht schneller als über die Gerichte. Ich vermittle, dass sie durchhalten sollen und vom eingeschlagenen Kurs nicht abkommen dürfen. Es ist ein ungleicher Kampf, aber wenn man ruhig bleibt und sachlich argumentiert und eben rigoros dranbleibt, hat man bessere Chancen. Wer vor Gericht steht, übergibt etwas in andere Hände und muss zitternd auf das Ergebnis warten – besser ist es, direkt im Geschehen zu steuern und es Schritt für Schritt in der Hand zu haben, damit man dem eigenen Ziel stetig näherkommt.
Wenn man es richtig macht und es tatsächlich eine ungerechtfertigte Maßnahme war, dann kommt man auch wieder raus.
Gibt es strukturelle Verbindungen, die Sie problematisch finden?
Ja, ganz klar. Im Kanton Bern gibt es eine Kindsvertreterin, die gleichzeitig im Vorstand einer Pflegefamilienorganisation ist. Das ist klar ein Interessenkonflikt. Und so gibt es teilweise auch Behördenmitglieder, die gleichzeitig in der Führung von Kinderheimen sind. Viele Behördenmitglieder sind arrogant und lassen keine Gespräche zu. Man sitzt nicht gemeinsam am Tisch – die Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen getroffen und die Berichte involvierter Fachpersonen werden einfach ignoriert, wenn die KESB anderer Meinung ist. Es braucht eine Reform, denn es kann nicht länger weggeschaut werden, wie hier Leben und Existenzen zerstört werden.
Was raten Sie Eltern, die mit der KESB in Kontakt geraten?
Holt euch keine Hilfe bei Behörden – das klingt hart, aber es ist ein Ratschlag aus Erfahrung. Versucht es zuerst im privaten Umfeld. Oder meldet euch bei uns. Und ganz wichtig: Immer sachlich und höflich bleiben. Emotionen wirken gegen euch. Seid aufrecht, geht den Weg – aber mit Strategie. Nie zu früh «Nein» sagen. Und wenn ihr Hilfe braucht, dann von Menschen, die das System verstehen und trotzdem nicht Teil davon sind.
Sie haben Forderungen beim Bundesrat eingereicht. Was erwarten Sie?
Wir erwarten wenig. Leider. Unser Gedenktag am 1. November erinnert an all jene, die unter dem System gelitten haben und heute auch weiter leiden – einige haben sich das Leben genommen. Unsere Forderungen betreffen insbesondere den überfallartigen Einsatz von Polizei bei Kindesentzügen – mitten in der Nacht, ohne Vorwarnung. Das ist nicht Kinderschutz, das ist Gewaltanwendung. Solche Einsätze sind traumatisierend – für Kinder wie für Eltern. Und sie müssen aufhören.
Wie finanziert sich Ihr Verein?
Im Moment sind wir an der Reorganisation und sammeln Spenden und Gönnerbeiträge. Es gibt sehr viel Arbeit – denn einerseits wollen wir eine VETO-Stelle schaffen, aber auch der Aufbau eines sozialrechtlichen Begleitdienstes steht an, damit die Betroffenen effektive Hilfe erhalten. Ab dem 1. Juli arbeite ich als Selbständige, dann wird auch die Struktur professionalisiert. Es gibt Möglichkeiten, dass den Betroffenen geholfen werden kann, jedoch muss sich dieses Projekt dann auch finanzieren. Anders geht es einfach nicht, denn ich bin nahezu 24 Stunden im Einsatz.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Kinderschutzes in der Schweiz?
Mehr Menschlichkeit. Mehr Dialog. Mehr Transparenz. Die KESB braucht nicht mehr Macht, sondern mehr Kontrolle. Die Betroffenen brauchen ein Vetorecht. Und vor allem: Es muss aufhören, dass Kinder traumatisiert werden, nur weil das System schneller ist als das Gewissen. Wir brauchen Verfahren, die im Sinne des Betroffenen laufen – nicht im Sinne der Institutionen.
Der Artikel «Vom Glück vergessen – und heute noch entrechtet?» zeigt, wie die offizielle Schweiz auf diese Situation reagiert – beziehungsweise nicht reagiert. Eine Ausstellung im Historischen Museum Bern beleuchtet das dunkle Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen in der Schweiz – ein System, das bis in die 1980er Jahre hinein Hunderttausende Menschen entrechtete, ausbeutete und misshandelte. Dass es auch im heutigen Fürsorgewesen fragwürdige Praktiken und schreiendes Unrecht gibt, wird hingegen nicht thematisiert.
Kontakt & Infos:
Kinder- und Erwachsenenschutzvereinigung KESV: E-Mail: [email protected]
Impressionen vom Gedenkanlass vom 1. November 2024. Am 1. November 2025 wird es eine Neuauflage dieses Anlasses geben.
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