Zwischen dem späten 19. Jahrhundert und den frühen 1980er Jahren wurden in der Schweiz Hunderttausende Kinder und Erwachsene Opfer fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen, oft ohne gerichtliches Urteil. Betroffen waren vor allem Menschen, deren Lebensweise von gesellschaftlichen Normen abwich – darunter arme, unverheiratete Mütter, «arbeitsscheue» oder «liederliche» Personen – sowie deren Kinder.
Viele Frauen wurden gegen ihren Willen zwangsweise medikamentös behandelt, sterilisiert, zur Abtreibung oder zur Freigabe ihrer Kinder gezwungen. Besonders bekannt sind die sogenannten Verdingkinder, die aus armen Familien stammten und zur Arbeit auf Bauernhöfen oder in Haushalten ausgebeutet wurden, häufig unter Gewalt und Missbrauch litten und kaum Bildung erhielten. Auch Kinder von Fahrenden wurden systematisch ihren Familien entzogen und sollten zur Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft umerzogen werden.
Die Ausstellung «Vom Glück vergessen» im Historischen Museum Bern thematisiert das dunkle Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen in der Schweiz, von dem bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zehntausende Menschen betroffen waren – besonders viele im Kanton Bern. Anhand bewegender Lebensgeschichten wie der von Ruedi Hofer, einem ehemaligen Verdingkind, das über 30 Mal fremdplatziert, misshandelt und sogar sexuell missbraucht wurde, vermittelt die Ausstellung eindrücklich das Leid und die systematische Ausgrenzung, die sogenannte «unwürdige» Menschen erfuhren.
Mit einer sorgfältigen, ästhetisch kraftvollen Gestaltung – etwa Kartonräumen und einem symbolischen Sternenhimmel – gibt die Ausstellung den Opfern eine Stimme und macht deutlich, wie lange die Auswirkungen dieser Politik nachwirken. Dies meldeten die Medien diese Woche (hier mehr dazu).
Ist dies Vergangenheit? Von wegen! Mit dem am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht wurde das alte Vormundschaftsrecht aus dem Jahr 1907 ersetzt und modernisiert. Die neuen Regelungen sowie die Institution der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sind seither allerdings teilweise heftig und meist nicht zu Unrecht kritisiert worden.
Auch mit dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ist der Spielraum der Behörden groß. Rechtsstaatliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Gewaltenteilung, unabhängige richterliche Überprüfung, Informationsfreiheit, Grundrechte und rechtliches Gehör sind immer noch schwach ausgeprägt.
Dies ist ein besonders krasser Fall, bei dem wohl nicht die Absicht bestand, das Kind zu schützen, sondern die Mutter zu bestrafen. Fälle, bei denen ein Kind der Mutter auf sehr eigenwillige, überfallsmäßige Weise in der Nacht entzogen wurde, sind keine Einzelfälle (hier ein Newsletter in dieser Sache). Hier ist zum Beispiel der Hilferuf eines Buben, der den Eltern entzogen wurde. Hier ist der Link zu einem älteren Fall, bei dem zwei Buben mit Hilfe der KESB zwangsweise geimpft werden sollten. Die Buben und ihre tapfere Mutter setzten sich gegen die KESB durch (weitere Links im Beitrag).
Da Betroffene oft nicht wissen, wie sie sich wehren können und wo sie Hilfe holen können, die Behörden aber alle Kniffe kennen – das geht vom Entzug der aufschiebenden Wirkung bis zum Einsatz der Polizei – scheinen auch heute die Spieße im Schweizer Fürsorgewesen alles andere als gleich lang zu sein. Die Aufarbeitung früher begangenen Unrechts ist gut, aber unvollständig, so lange in diesem sensiblen Bereich neues Unrecht begangen wird.
Hilfe bietet heute zum Beispiel die Kinder- und Erwachsenenschutzvereinigung KESV. Sie kennt das Schweizer Fürsorgesystem nicht nur aus Berichten. Es gibt eben auch heute noch traumatische Eingriffe der KESB, systemisches Versagen und den Einfluss der Sozialindustrie. Hier hat die Präsidentin der KESV, Jasminka Brcina, Transition News ein eindrucksvolles Interview gewährt.
Kommentar Transition News
Die Probleme im Schweizer Fürsorgewesen sind real. Museen, die die Geschichte vergangenen Unrechts aufarbeiten, sind gut und recht. Allerdings geht vergessen, dass dies nicht Vergangenheit ist und dass es nach wie vor viele Verfahren gibt, die einer rechtsstaatlichen Vorgehensweise spotten.
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Mehr zum Thema: «Hilfe holen – und plötzlich wirst du entrechtet»: Jasminka Brcina über KESB-Willkür, Trauma und den Kampf um menschliche Würde.
Die Präsidentin der Kinder- und Erwachsenenschutzvereinigung KESV, Jasminka Brcina, kennt das Schweizer Fürsorgesystem nicht nur aus Berichten – sie selbst begleitete bisher 207 Fälle und war auch mal selbst betroffen. Im Interview mit «Transition News» spricht sie über traumatische Eingriffe der KESB, systemisches Versagen, den Einfluss der Sozialindustrie und warum ihr Verein zur letzten Hoffnung für viele Betroffene geworden ist.