Der israelische Ministerpräsident Benjamin «Bibi» Netanjahu «ist am Ende», zitiert der US-Journalist Seymour Hersh einen «Veteranen des israelischen Sicherheitsapparats, der über Insiderwissen zu den jüngsten Ereignissen verfügt». Wenn der aktuelle Krieg gegen die islamistische Hamas zu Ende sei, werde Netanjahu zurücktreten müssen.
Hersh schreibt das in einem Bericht, den er am Donnerstag veröffentlicht hat. Als Grund für Netanjahus politisches Ende gibt er an, dass laut dem Insider der Ministerpräsident kurz vor dem Hamas-Überfall zwei israelische Armee-Bataillone von der Grenze zu Gaza abziehen liess. Die sollten stattdessen ein Fest von jüdischen Siedlern im Westjordanland nahe bei palästinensischen Dörfern schützen.
Zuvor hätten jüdische Siedler am 6. Oktober im Westjordanland einen palästinensischen Jugendlichen getötet, so Hersh. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AP sei das der jüngste Fall in einer Reihe von israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen gewesen, bei denen in diesem Jahr bereits fast 200 Palästinenser ums Leben gekommen seien. Deshalb sollte das fest der jüdischen Siedler besonders geschützt werden.
Durch die Truppenverlegung sei die 51 Kilometer lange Grenze zum Gazastreifen nur noch von etwa 800 israelischen Soldaten bewacht worden. Hersh zitiert den Insider: «Das bedeutete, dass die israelischen Bürger im Süden zehn bis zwölf Stunden lang ohne israelische Militärpräsenz auskommen mussten. Sie waren sich selbst überlassen.»
Die Hamas dürfte am 7. Oktober die Lage ausgenutzt haben – und «das grösste militärische Versagen in der israelischen Geschichte» ausgelöst haben, gibt der investigative Journalist seinen israelischen Informanten wieder. Im Überraschungskrieg von 1973, dem «Jom-Kippur-Krieg», seien durch die angreifenden ägyptischen und syrischen Einheiten nur Soldaten getötet worden. Dieses Mal habe die Hamas in den eingenommenen Siedlungen auch Frauen und Kinder getötet.
Gelder für die Hamas
Der Insider berichtet laut Hersh auch, dass Netanjahu «immer gegen das Oslo-Abkommen von 1993» gewesen sei, mit dem die Palästinensische Autonomiebehörde die formale Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen bekam. Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2009 habe er sich entscheiden, die Hamas als Alternative zur Autonomiebehörde zu unterstützen und «gab ihr Geld und etablierte sie im Gazastreifen».
Das Geld sei über Katar gekommen, «das mit israelischer Zustimmung begann, Hunderte von Millionen Dollar an die Hamas-Führung zu schicken» – seit 2014 etwa 1,6 Milliarden Dollar. Netanjahu sei überzeugt gewesen, so mehr Kontrolle über die Hamas zu haben, und habe in Kauf genommen, dass diese «gelegentlich Raketen auf den Süden Israels» abfeuern würde. Der Überfall sei «das Ergebnis der Bibi-Doktrin, dass man einen Frankenstein erschaffen und die Kontrolle über ihn haben kann».
Der Insider hat laut Hersh bestätigt, dass es «eine militärische Antwort» geben soll, für die etwa 360’000 israelische Reservisten einberufen worden seien. Es gebe derzeit aber eine Debatte in Israel um die Strategie, da die Bodentruppen der israelischen Armee IDF keine Erfahrungen mehr für einen Kampf am Boden, «in den Ruinen der schwer bombardierten Stadt Gaza» hätten.
Der US-Journalist weist daraufhin, dass bei den gegenwärtigen Luftangriffen rund um die Uhr auf zivile Ziele – Wohnhäuser, Krankenhäuser und Moscheen – im total blockierten Gaza keine Rücksicht mehr auf die Zivilbevölkerung genommen werde. Diese hätte auch keinerlei Möglichkeit mehr, sich zu schützen oder in Sicherheit zu bringen.
Faschistische Blockade als Vorbild?
Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Freitag die israelische Blockade von Gaza seit Wochenbeginn mit der Blockade Leningrads, dem heutigen St. Petersburg, durch die deutsche faschistische Wehrmacht von 1941 bis 1944 verglichen. Wie zur Illustration dessen gibt Hersh Aussagen seines Informanten wieder, nach denen das israelische Militär «eine brutale Option» in Erwägung ziehe. Diese werde als «Leningrader Ansatz» bezeichnet und beziehe sich auf den faschistischen Versuch, die Stadt an der Newa damals auszuhungern, was mehr als eine Millionen Menschen das Leben kostete.
Das will also nun die israelische Armee den Angaben des US-Journalisten nach mit den bewaffneten Palästinensern im Gaza-Streifen machen. Es sei bekannt, dass die Hamas-Führung und ein Grossteil ihres Personals «im Untergrund leben», zitiert er den israelischen Insider. Israels Ziel sei es, so viel von diesem Personal zu zerstören, «ohne einen traditionellen Angriff von Haus zu Haus zu versuchen».
«Die grosse Debatte heute», sagte der Informant laut Hersh, «ist, ob man die Hamas aushungern oder bis zu 100’000 Menschen in Gaza töten soll». Vom Völkerrecht und dem humanitären Kriegsrecht ist dabei keinerlei Rede, auch nicht von den historischen Ähnlichkeiten.
Störendes Völkerrecht
Stattdessen sind dem Bericht nach einige in der israelischen Führung aus einem anderen Grund besorgt gewesen – weil westliche Politiker zwar «volle Unterstützung für eine sofortige Reaktion» geäussert hätten, dabei aber «Rechtsstaatlichkeit» einforderten. Selbst US-Präsident Joseph Biden habe Netanjahu kürzlich gesagt, dass Israel «bei all der Wut und Frustration» die «Regeln des Krieges» einhalten solle.
Der israelische Insider berichtete laut dem US-Journalisten, dass in Israel vermutet wird, die Hamas wolle als Staat angesehen werden möchte, der sich um seine Bürger kümmere. Das könne «eine Chance für eine ruhige und rationale Diskussion über Gefangene» ergeben und helfen, dass einige der israelischen Geiseln der Hamas freikommen könnten. Doch «je mehr wir alle» von der Brutalität der Hamas im Fernsehen sehen und «je mehr die Hamas als eine weitere ISIS gesehen wird, desto knapper wird die Zeit», gibt Hersh die Aussagen wieder.
Der Insider meine aber, die Hamas sei «nicht rational und zu Verhandlungen nicht fähig». Vermittler Katar werde nicht eingreifen. «Und wenn es nicht zu einer internationalen oder Drittpartei-Intervention kommt, könnte es zu einer allgemeinen Bodeninvasion mit unzähligen Toten auf allen Seiten und allen Gefangenen kommen.»
Hersh schrieb am 12. Oktober: «Die Entscheidung, mit voller Wucht einzumarschieren, liegt bei Israel, und sie ist noch nicht getroffen worden.»