Die Szenen in Genf waren gespenstisch an diesem Samstag, den 1. Juni 2024. Nichts drang an die Öffentlichkeit. Im Palais des Nations tagte die 77. Weltgesundheitsversammlung. Der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wollte auf Biegen und Brechen Änderungen an den Internationalen Gesundheitsvorschriften durchbringen. Dass dafür die Frist abgelaufen war, interessierte ihn nicht. In einem unwürdigen Verfahren wurde der definitive Text erst am Abend (wir haben zum Beispiel hier darüber berichtet, weitere Links im Beitrag) bekannt – und per Akklamation verabschiedet. Ein Verfahren, wie es in der Schweiz nicht einmal bei einem als Verein organisierten Kaninchenzüchterverein durchgehen würde!
Die Statuten der WHO sehen vor, dass ein Land, das diese Änderungen nicht wünscht, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Widerspruch einlegen muss. Einige wenige Länder haben das schon getan. Aber bis wann?
Am 19. September 2024 gab der Generaldirektor der WHO die offizielle Notifikation der Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) bekannt. Mit diesem Schritt begann die gesetzlich festgelegte Frist für die Mitgliedstaaten, ein Opting-out zu erklären, sollte ein Staat die Änderungen nicht akzeptieren wollen. Die Schweiz hat nun zum Beispiel bis zum 19. Juli 2025 Zeit, diesen Widerspruch zu erheben. Ohne eine solche Erklärung werden die geänderten Bestimmungen der IGV am 19. September 2025 automatisch in Kraft treten und für die Schweiz verbindlich sein.
ABF Schweiz , eine zivilgesellschaftliche Organisation für eine freie und souveräne Schweiz, fordert den Bundesrat, die Landesregierung, auf, rechtzeitig ein Opting-out zu erklären. Nur durch einen Widerspruch, so argumentiert die Organisation, könne sichergestellt werden, dass das Parlament die Änderungen der IGV überprüfen und darüber abstimmen kann. Sollte der Bundesrat dies versäumen, werde das Volk seiner verfassungsmäßigen Rechte beraubt, da eine Volksabstimmung zu den Änderungen nicht mehr möglich wäre.
Während der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Änderungen der IGV zurzeit noch prüfen, äußert ABF Schweiz Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Überprüfung. Seitens der Regierung werde oft betont, dass die Anpassungen der IGV nur «technischer Natur» seien und keine tiefgreifenden Änderungen für die Schweizer Gesetzgebung mit sich bringen würden. Dies habe auch die zuständige Innenministerin, Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider in der Ständeratsdebatte vom 26. September 2024 bekräftigt.
ABF Schweiz und das Rechtsgutachten von Professor Dr. Isabelle Häner widersprechen dieser Einschätzung jedoch deutlich. Ein besonders umstrittener Punkt ist die Verpflichtung der Vertragsstaaten, Desinformation rund um Gesundheitsfragen proaktiv zu bekämpfen. Diese Verpflichtung könnte, so die Kritik, tief in die Informationsfreiheit eingreifen und stellt nach Ansicht von ABF Schweiz eine bedeutende Einschränkung dar.
Neben den geänderten IGV steht auch der sogenannte Pandemievertrag der WHO im Zentrum der Debatte. Beide internationalen Abkommen sind eng miteinander verknüpft, wie die jüngsten parlamentarischen Diskussionen zeigten. Am 26. September 2024 nahm der Ständerat die Motion 22.3546 an, die sicherstellen soll, dass der Pandemievertrag dem Parlament vorgelegt wird. ABF Schweiz sieht hierin einen wichtigen Präzedenzfall, der auch für die IGV gelten müsse: Beide Abkommen sollten denselben innerstaatlichen Genehmigungsprozessen unterliegen.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung wurde mit der Einreichung einer parlamentarischen Motion unternommen, die explizit verlangt, dass auch die geänderten IGV dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden. Diesem Antrag wurde bereits im März 2024 zugestimmt, was die Forderung nach einer umfassenden parlamentarischen Kontrolle der völkerrechtlichen Verträge weiter untermauert.
Ein Opting-out ist aus Sicht der Organisation der einzige Weg, um sicherzustellen, dass sowohl das Parlament als auch das Schweizer Volk die Möglichkeit haben, über die geänderten IGV zu entscheiden. Der schweizerische Rechtsstaat, so argumentiert ABF Schweiz, dürfe nicht durch internationalen Druck untergraben werden.
Auch wenn der Bundesrat und das BAG wiederholt versichert haben, dass die Schweiz in ihrer Gesundheitspolitik weiterhin souverän bleiben und alle Maßnahmen im Falle einer internationalen Gesundheitskrise eigenständig entscheiden werde, bleibt ABF Schweiz skeptisch. Die Organisation fordert daher weiterhin eine umfassende und transparente Auseinandersetzung mit den geänderten IGV sowie dem Pandemievertrag.
Obwohl die Regierung betont, dass die Änderungen keine Anpassungen des Bundesrechts erforderlich machen, sieht ABF Schweiz hierin einen Widerspruch zur bestehenden Gesetzgebung. Das Epidemiengesetz von 2016, das die Umsetzung der IGV in der Schweiz regelt, müsste nach Auffassung der Organisation bei einer Annahme der Änderungen zwingend überarbeitet werden. Dies würde eine Genehmigung durch die Bundesversammlung und die Möglichkeit eines Referendums erfordern.
Die kommenden Monate werden zeigen, wie der Bundesrat mit den geänderten IGV umgehen wird und ob er die Bedenken und Forderungen von Organisationen wie ABF Schweiz berücksichtigt. In einigen Kantonen sind zudem Standesinitiativen in Vorbereitung oder schon lanciert, die den Bundesrat zu ebendiesem Opting-out zwingen wollen.
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