Transition News: Von 2008 bis 2022 waren Sie Studienleiter der Opernschule an der Hochschule für Musik «Franz Liszt» Weimar. Wie war Ihr musikalischer Werdegang?
Veit Wiesler: Nach dem Abitur, das ich in Bayern, wo ich am Starnberger See aufgewachsen bin, absolvierte, kam ich ans Münchner Richard Strauss-Konservatorium und habe dort sechs Jahre lang klassisches Klavier bei Gernot Sieber studiert und zwei Abschlüsse gemacht, einen pädagogischen sowie einen künstlerischen. Im Laufe dieser Zeit konnte ich ein bisschen in den Jazz hineinschnuppern, vor allem Leonid Chizhik, ein fabelhafter russischer Jazz-Pianist, der seit Langem in Deutschland lebt und zu dem ich ein Jahr lang gehen durfte, war für mich sehr türen- und horizonteröffnend. Ich hatte für mich immer improvisiert, aber das Jazz-Idiom war mir noch recht fremd. Chizhik hat mich ein wenig eingeführt, mir dann einen recht breiten roten Teppich ausgerollt und mich nach Weimar eingeladen, wo er auch eine Professur bekam, und bei ihm durfte ich noch einmal richtig Jazz studieren.
Das war die Versuchung für mich – als damals etwas intellektuell verklemmter klassischer Pianist – raus der alten Heimat in das für mich damals weitentfernte und fremde Weimar zu gehen, um dort ein zweites Studium aufzunehmen. 1996 habe ich dann bei Chizhik in Weimar Jazzklavier und beim klassischen, russischen Pianisten Lazar Berman klassisches Klavier weiterstudiert. Ich belegte beide Hauptfächer parallel und bin dann sozusagen in der Institution, in der ich noch einen weiteren Abschluss machte, vom Studenten zum Dozenten geworden.
Wie sind Sie zu Ihrem Job als Studienleiter der Opernschule gekommen?
Das hat sich schrittweise ergeben: Ich hatte schon als Student viel mit Sängern gearbeitet. Als ich nach Weimar kam, hatte ich ja bereits zwei Abschlüsse in der Tasche und deshalb viele Begleitertätigkeiten übernommen. Ich bekam dann diese neu ausgeschriebene Studienleiterstelle und wurde so vom Lehrbeauftragten in den Stand des Festangestellten erhoben – das war im Jahr 2008.
Es war von den äußeren Bedingungen her auf jeden Fall ein Traumjob, denn erstens liebe ich den klassischen Humus, von dem Weimar tief durchdrungen ist, zudem sind die Sänger im Rokoko-Schloss «Belvedere» untergebracht, das traumhaft schön ist. Es gibt einen Park, mit Springbrunnen, Orangerie, Palmengarten – früher gab es dort sogar Pfaue – und ein eigenes kleines Studiotheater für mittelgroße Eigenproduktionen.
Die Studienbedingungen sind sehr entspannt und ruhig in dieser kulturgesättigten, schönen alten Kleinstadt. Und die Position des Studienleiters gibt es fast nie für junge Menschen, die meine Ausbildungen haben, sondern normalerweise für studierte Korrepetitoren oder Dirigenten oder einer Kombination aus beiden.
Der damalige szenische Leiter der Opernschule, Elmar Fulda, der seit 2018 Präsident der Frankfurter Musikhochschule ist, schätzte die Art, die ich als Theaterquereinsteiger mitbrachte. Er konnte mit mir Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten, wir machten viele genreübergreifende Produktionen, neben dem angestammten Opernrepertoire. Ich habe Arrangements für szenisch-musikalische Abende geschrieben, sei es mit Volksliedern, französischen Chansons oder amerikanischen Jazz-Standards, was sonst für einen Korrepetitor nicht zu den Selbstverständlichkeiten zählt. Fulda gefiel, wie ich an die Dinge herangehe, mein Blick auf das Operngeschehen und das szenische Unterrichten. Es war eine sehr fruchtbare, langjährige Zusammenarbeit.
Die äußeren Bedingungen waren denen eines Traumjobs sehr nahe. Trotz der steten internen Auseinandersetzungen um die Bedingungen unseres Tuns und unserer Ausrichtung – schon lang vor «Corona» –, habe ich dort viel Potenzial für spannende Entwicklungen gespürt. Und für Pianisten gibt es ja nicht um die zum Beispiel für Sänger gangbaren Wege, zu einem halbwegs gesicherten Auskommen an einem Theater im Ensemble, im Chor oder beim Rundfunk angestellt zu sein. Als festangestellter Pianist, der mit Sängern arbeitet, in einem so schönen Ambiente, mit einem eigenen Studiotheater und vielfältigen Kooperationen mit den umliegenden Theatern eines großen Einzugsbereiches – Eisenach, Nordhausen, Bad Lauchstädt, Erfurt, Rudolstadt – das hatte eine große Anziehungskraft.
«Ich möchte nicht länger schweigen», ist die Überschrift Ihres offenen Briefs, den Sie an den Präsidenten der Hochschule gerichtet hatten. Trotz des Traumjobs?
Zuallererst möchte ich voranschicken, weil der Brief ja wirklich auch persönlich an Herrn Christoph Stölzl adressiert ist, dass wir von einem Menschen reden, der nicht mehr unter uns weilt. Er ist im Januar 2023 verstorben, plötzlich und unerwartet. Ich hege und hegte gegen ihn persönlich keinen Groll – bis zu «Corona» hatten wir stets guten Austausch und herzlichen Kontakt – auch wenn ich nach wie vor die Entscheidungen, die getroffen wurden, und die Art, wie die Hochschule sich insgesamt verhielt, durchaus scharf kritisiere; ebenso waren diese Entscheidungen symptomatisch für einen ganzen Kulturbetrieb. Doch habe ich in dem Brief versucht, einerseits Herrn Stölzl durchgehend persönlich anzusprechen, an ihn zu appellieren, andererseits jedoch in der Sache selbst nie «ad hominem», sondern «ad causam» zu gehen.
Ich hätte mir gewünscht, nach dieser Zeit noch Gelegenheit zu haben, in versöhnlichem Ton und mit vielleicht erfolgter Einsicht Gräben überbrücken zu können. Doch dazu kam es leider nicht mehr – möge er in Frieden ruhen!
Durch meine Position in der Hochschule hatte ich immer mit vielen Menschen zu tun. Meine Tätigkeit lag am Schnittfeld zwischen behütetem Musizierzimmer und den Anforderungen eines öffentlichen Musikbetriebes, die in den angestrebten Produktionen schon in den Studienalltag hineinragen. Das bedeutet: die Studenten aus dem Zwei-Mann-Unterricht – ein Student, ein Gesangslehrer, vielleicht noch ein Korrepetitor – in die größeren Gruppen, Ensembles, Chöre, in die größeren sozialen Zusammenhänge der Musiktheaterpraxis zu holen. Und dieser Bereich brach während «Corona» als erstes zusammen, größere Zusammenkünfte waren nicht mehr gern gesehen und die «aerosolsprühenden» Sänger plötzlich die allerschlimmsten.
Mein Bereich wurde dadurch als erster gecancelt und am längsten nicht mehr zum Aufleben gebracht. Sehr früh stand ich daher vor der Situation, dass die mir anvertraute Arbeit verunmöglicht wurde. Ich habe unter den sich stets ändernden Bedingungen versucht, ein Gruppengenre durchzutragen, das dezidiert darauf baut, dass viele Menschen im freien Austausch, in freier Kommunikation und im sozialen Miteinander Künstlerisches auf die Beine stellen.
Genau da rauschte alles «Corona»-Maßnahmenrestriktive sehr direkt, sehr widersprüchlich, sehr schnell und sehr langanhaltend ein. Anderthalb Jahre lang habe ich versucht, in kleineren Gruppierungen, in Einzelgesprächen mit meinen Chefs, mit Mitarbeitern, mit der Verwaltung, mit dem Künstlerischen Betriebsbüro sowie auch in Gremien wie dem Institutsrat und dem Fakultätsrat, in dem ich teilweise saß, die verquere Situation anzusprechen und zu fragen: Was machen wir da? Wie soll ich – als Studienleiter einer der Hauptverantwortlichen bis zur späteren Übergabe der Produktion an Regisseur und Dirigent – die mir anvertrauten Projekte durchtragen?
Wenn ich zuerst gar nicht proben darf, dann nur mit sechs Studenten, dann wieder plötzlich mit zwölf, weil man auf die findige Idee kam, Zuschauerraum und Bühne als je einen Raum zu definieren. Ich probte also beispielsweise Puccinis Einakter «Gianni Schicchi», und hatte mir neben einem durchaus bereits kleinteilig ausgearbeiteten Plan, wann wer dranzukommen habe, einen zweiten Plan erstellt, wen ich wann aus dem Probenraum zu werfen habe, weil die Größe der Besetzung in den Massenszenen die infektionsschutzgemäße zulässige Höchstzahl für den Raum überstieg. Dazu ständiges Herumtragen von Plexiglasaufstellern, die die Aerosolströme dieses offensichtlich hochintelligenten Virus in die «richtige Richtung» zu lenken hatten. Und – spielen Sie mal eine intime Liebesszene mit vier Metern Singeabstand!
Es kam vor, dass eine Produktion, in der ein ganzes Jahr Arbeit steckte, nach der Generalprobe gestrichen wurde, weil ein Techniker zweimal einen positiven Schnelltest hatte. Ich fragte also: Wie soll ich unter diesen – auch noch alle Nase lang wechselnden Bedingungen – unsere Projekte durchtragen, und das vor allem angstfrei? In einem Genre, in dem kein kleiner Teil der Energie darauf verwendet wird, die Studenten sich vertrauensvoll und ohne Angst, eng und offen kommunizierend und sich verströmend, neue Räume erschließen zu lassen?
Diesen 90-seitigen offenen Brief haben Sie im September 2021 verfasst. Warum zu diesem Zeitpunkt?
Als dann der Herbst 2021 kam, war allen, die kritischere Fragen an die Situation stellten, klar, dass noch mal eine Verschärfung kommen würde. Ich wollte ein Zeichen setzen, das über «ich habe hier Opern einzustudieren, das geht so nicht» hinausging. Ich wollte eine tiefere Diskussion einfordern, über die Hintergründe, über die Selbstbestimmung unseres gemeinsamen Tuns. Ich hatte das Bedürfnis, auch einen Pflock in die Erde zu stoßen, den man nicht so leicht würde umrennen können und sagen: So geht es nicht weiter, es sind alle roten Linien überschritten. Ich möchte das nicht länger mitmachen, wir müssen reden!
Um von dieser Haltung und dem weiten Panorama, das ich auf den 90 Seiten versucht habe aufzumachen, inklusive zahlloser Informationen, die für unsere Hochschulblase sicherlich neu und unerhört waren – auch über die Rolle von Kunst, von Sprache, von Freiheit, ja, von Spiritualität in einer Gesellschaft –, in eine konkrete Handlung zu kommen, habe ich am ersten Tag des Wintersemesters zusätzlich eine Mail geschrieben. Und zwar an die ganze Abteilung und die 60 Studenten, die wir zu betreuen hatten, an meine Kollegen und die Hochschulleitung und einige andere. Darin habe ich ganz offen zivilen Ungehorsam angemeldet und gesagt, dass es bei mir in diesem Semester keinen Unterricht geben wird, der nur aufgrund von Zwangsmaßnahmen wie «3G», «2G» oder «1G» stattfinden wird können.
Ich habe also klargemacht, dass ich nicht nur ein bisschen maule und dann wieder hingehen und weiter Dienst nach Vorschrift leisten werde, sondern dass ich nicht mehr mitmache.
Daraufhin, also auf beides, den Brief und diese Ankündigung, gab es eine Abmahnung inklusive Kündigungsandrohung und eine Art Redeverbot: dass ich über diese Dinge innerhalb der Hochschulmauern nicht mehr zu kommunizieren hätte und dass, wenn ich mich weiterhin querstelle, es arbeitsrechtliche Konsequenzen hätte, dass ich mein Treuegebot meines Unterrichts gegenüber den Studenten verletzt hätte und dass ich aufhören solle, Menschen zum Boykott der Maßnahmen aufzurufen – was ich ganz bewusst niemals getan habe, weil ich wusste, hier geht es letztlich um Gewissensentscheidungen, und diese sind nicht zu delegieren. Ich kann nur für mich sagen: Ich mache das so nicht mehr mit. Bei mir gibt es keinen Unterricht, der nur aufgrund dieser Zwangsmaßnahmen stattfinden kann. All dies wurde vom Tisch gewischt. In der Abmahnung hieß es, über «Fake News» werde man nicht sprechen.
Einige Tage danach legte die Hochschulleitung nach, wohl in Sorge um einen möglichen Flächenbrand. Ein interner Hochschul-Newsletter wurde verschickt, an die über 1.000 Mitglieder der Hochschule. Dort ging es ausschließlich um mich, für jeden ersichtlich, auch wenn mein Name nicht genannt war. Da sei einer, der ausschere, man werde dies auf keinen Fall dulden, wir müssten uns nun solidarisch zeigen und seien mit der Impfung auf einem guten Wege aus der Krise. Auch hier erging noch einmal höchstpräsidentiell die Aufforderung an alle, sich über diese Themen doch bitte außerhalb der Hochschulkanäle auszutauschen; also eine aktive Unterbindung offenen Austausches innerhalb der Alma Mater über Bedingungen, die unsere komplette Kunstausübung in nahezu jedem Teilaspekt ihres täglichen Tuns beschränkten, auf den Kopf stellten, oder ganz verunmöglichten.
Als auch auf diesen Aufruf zum Stillschweigen hin tatsächlich Stillschweigen herrschte, wusste ich, was ich von dieser Hochschule, als auch vom Gros meiner Kollegen zu erwarten oder zu erhoffen hätte.
Was haben Ihre Studenten dazu gesagt?
Ich hatte ab da keinen direkten Kontakt mehr. Der Druck wurde für mich so groß, dass mein Körper mir quasi sagte: «Du hast Dir da was ausgedacht, das konkret einen endlosen Spießrutenlauf bedeutet – Proben ausmachen, hingehen, sich nicht testen lassen wollen, wieder heimgehen, Fragen, Empörung, Probenverzögerung, Notstandssitzungen, weitere Abmahnung. All das trägst Du auf meinem Rücken aus – das geht so nicht.»
Es hat mich dann flachgelegt, zuerst mit langmonatiger Infektion und Schwächezuständen, dann kamen psychischere Diagnosen hinzu, die Bedrängnis und Verzweiflung über die ausweglose Lage sowie die eigene Ohnmacht waren zu groß – letztlich war ich elf Monate krankgeschrieben. Ab diesem Zeitpunkt habe ich keinen meiner Studenten mehr innerhalb der Hochschule gesehen und auch tatsächlich keine Stunde Unterricht mehr gegeben.
Von einigen wenigen Studenten habe ich sehr positive Reaktionen bekommen: Interessanterweise von einer Südafrikanerin, die also aus einem Land stammt, wo man sehr genau weiß, wohin eine Zweiklassengesellschaft führen kann; von einer Studentin aus Russland, wo man seit rund einhundert Jahren weiß, dass man der Regierung nicht vertrauen kann; von einem Schweden, wo man weiß, dass man mit einem Virus auch ganz anders umgehen kann. Ausgerechnet von einem Deutschen, einem scheinbar «aufgeklärten Intellektuellen», bekam ich eine sehr wutentbrannte, kalte Mail, ohne Anrede, ohne Verabschiedung.
Und Ihre Kollegen?
Ich bekam weder von den langjährigen Kollegen noch aus irgendeinem Gremium irgendeine Unterstützung, niemand, der irgendwie gesagt hätte: «Moment mal, lasst uns mal reden. Veit hat einen offenen Brief geschrieben, wir können darüber sprechen, wie wir miteinander, mit der Kunst oder mit dieser behaupteten Notlage umgehen.»
Da war im Großen und Ganzen nichts, nur vollkommenes Schweigen im Walde. Der damalige Dirigent des Hochschulorchesters schrieb mir auf meine 90 Seiten hin in zwei Zeilen, er habe keine Zeit, sich mit so einer Schrift zu befassen, und sei zudem froh, mehrfach geimpft zu sein – voilà tout!
Mit einzelnen Kollegen, bezeichnenderweise eher in der unteren Hierarchie der Riege der Lehrbeauftragten, hatte ich bereits oft in Weimar auf dem Platz vor dem Nationaltheater, unter Goethe und Schiller, bei Demonstrationen gestanden, die wir ab 11. April 2020 organisierten. Da bestand guter Kontakt zu etlichen, die sich teils auch intern und vergeblich, kritisch zu Wort gemeldet hatten.
Unter den höhergestellten Professoren meldete sich meine hochgeschätzte inzwischen ehemalige Kollegin Kerstin Behnke, Professorin für Chorleitung, bei mir. Ein schöner Austausch kam zustande, der bis heute besteht. Sie wählte einen anderen Weg, stellte sich nach innen – nicht quer wie ich, aber engagierte sich zugleich bei «Alles auf den Tisch», führte Interviews mit dem Berliner anthroposophischen Arzt Erich von Freisleben über Impfschäden und arbeitete später im Projekt «Unsichtbar zeigen», bei dem Impfgeschädigte zu Wort kommen.
Sie haben sich vehement für die Freiheit der Kunst eingesetzt. Haben Sie dafür Vorbilder aus dem Bereich der Musik – Komponisten oder Werke?
Ich war ja angestellt, um die großen Werke, speziell der Opernliteratur der letzten Jahrhunderte, auf die Bühne zu bringen. Und der Geist, der dort weht, schien mit all dem, wie wir jetzt mit Menschen, Individuen, Kunst, Gesellschaft, Wissenschaft, Kommunikation, Herrschaft, Macht und Gesetzen umgehen, im völligen Widerspruch zu stehen.
Es gibt fast keine Oper, ob als Drama oder als Komödie, die nicht zum Thema hat, wie der Mensch zur Familie, zur größeren Gruppierung, zur Ethnie, zur Religion oder dem Staat steht. Und wie das persönliche Schicksal sich zu den Zwängen eines Staates, einer Herrschaftsfamilie oder einer bürgerlichen beziehungsweise nichtbürgerlichen Herkunft verhält. Es geht ganz viel darum, wie sich das Individuum behauptet – als liebender, als nach Freiheit strebender, sich frei ausdrückender Mensch – in Anbetracht der Zwänge in Gesellschaft, Religion oder Geschichte.
Und genau das habe ich mit jungen Menschen einzustudieren. Ich kann nicht «Figaros Hochzeit» von Mozart einstudieren, ohne über die Ideale der französischen Revolution zu sprechen, auf die Mozart, sein Librettist Lorenzo da Ponte oder Pierre de Beaumarchais, von dem das Original stammt, anspielen. Aber wie kann ich darüber sprechen, wie man Herrschaft überwand, als man sich gegen das Ancien Régime stemmte, darüber, dass ein Friseur niederer Herkunft, wie der Figaro, plötzlich seinen hochwohlgeborenen Grafen hinterfragt, ihm Paroli bietet, ihn schließlich vor versammelter Schlossgemeinschaft bloßstellt; wie kann ich all das glaubhaft vermitteln, wenn ich den Studenten dann sage: «Wenn Ihr jetzt von der Bühne geht, dann tragt Ihr alle eine Maske und gebt Euch nicht die Hände. Gänge sind nicht mehr zum Verweilen da und treffen wollen wir uns eigentlich auch nicht. Und zu hinterfragen, warum Ihr diese Liebesszene jetzt leider spielen und singen müsst, ohne Euch zu berühren, ist verboten.»
Das war teilweise die Maßgabe, und das widerspricht sich fundamental mit der Sache, die ich zu vertreten habe. Ich kam mit den urangestammtesten Dingen, für die ich angestellt war, in Konflikt. Die Werke selber, die ich seit gut 40 Jahren spiele und auch unterrichten sollte, und der Geist, der in ihnen weht, und aus dem – und nur aus ihm – sie überhaupt entstanden sind, waren mein Vorbild, um zu sagen: Hier stimmt – und klingt – etwas überhaupt nicht mehr zusammen.
Der Missklang war für jeden, der in jahrzehntelangem Üben Feinabstimmungen am Instrument oder in der Stimme pflegt, überdeutlich. Und die Resonanz der Hochschulgemeinde wiederum auf diesen Missklang war – bei aller Unterschiedlichkeit einzelner Befindlichkeiten der Individuen – als Ganzes, als unser gemeinsamer sozialer Ton, ein ohrenbetäubendes Schweigen zu den sich verengenden Verhältnissen. Als selbst auch tonsetzender Musiker würde ich es als «Pianissimo tumultuoso» notieren.
Können Sie sich erklären, warum so viele noch immer schweigen?
Die Kulturschaffenden standen vor der oft sehr herausfordernden Frage, ob sie dem Urbegriff dieser Bezeichnung nachkommen wollen, nämlich Kultur zu schaffen, aus der Freiheit des Geistes heraus, aus der einzig sie möglich ist, oder aber ob sie auf die hören, in deren Arbeits- und Anstellungsverhältnissen sie waren oder bleiben wollten. Beides begann, immer mehr auseinanderzudriften, und wurde schließlich schwer vereinbar.
Die, die sich der Frage stellten, ob sie innerhalb der Vorgaben noch das machen können, wofür sie eigentlich bezahlt werden, riskierten an ebendieser Bruchstelle die Umwälzung ihrer Lebensverhältnisse – mit darauffolgender sehr individueller Beantwortung dieser Frage.
In meinem offenen Brief gibt es nur einen Satz, der zweimal vorkommt, vielleicht auch als Bestärkung im Selbstbekenntnis mir gegenüber: «Ich singe nicht das Lied, des’ Brot ich ess’ – ich singe Lieder von Strauss und Mahler.»
Und diese Gewissensentscheidungen hatte jeder zu durchringen. Das habe ich in vielen Künstlervereinigungen und anderen Zusammenkünften von Musikern, die sich seitdem gebildet haben, mitbekommen: ob als Musikschullehrer, freiberuflicher Musiker, ob in einem Rundfunkchor, in Orchester-Anstellung oder als Solist. Jeder kam irgendwo an seine Grenzen oder ist mit seinem Freiheits- und Ausdruckswunsch an die Grenzen eines Musikbetriebes gekommen, der politischer Willkür Tür und Tor öffnete, um dann, oft noch in vorauseilendem Gehorsam, die Pforten zu schließen.
Sehen Sie eine Lösung für dieses Dilemma?
Früher oder später müsste man eine Ebene höher gehen und würde zur Dreigliederung eines Staates kommen, bei der die einzelnen Bereiche nach menschengemäßen Prinzipien gestaltet sind. Und dann würde schnell klar: Im Bereich des Geisteslebens, zu dem die Musik gehört, hat der Staat eigentlich gar nichts zu suchen.
Es ist ein Unding, dass ein Staat eine Kultureinrichtung finanziert und dort die Maßnahmen – oder Maßgaben – des Staates hineinrauschen, in ein Gebiet, das gar nicht seines ist.
Zwar gibt es im Geistesleben Hierarchie, jedoch ist das einerseits eine fluktuierende, die uns in Wechselbeziehung von der Meisterschaft zur Schülerschaft bringt und in der die letztere über ersterer steht: Ich mag meinen Studenten etwas über Richard Strauss näherbringen, doch sind wir beide Waisenknaben ihm gegenüber. Strauss selbst verneigt sich wiederum vor einem Mozart und sagt: «Der Mozart – wie der schreibt, i kann’s ned.» Und Mozart selbst mag in Demut gestanden haben vor den hohen Geistern, die ihn inspirierten.
Andererseits ist das Bild für das stilbildende Mittel im Geistesleben das Gold – nicht als Geld- oder Machtsymbol, sondern in seiner sonnenhaften Substantialität: Wenn jemand kommt wie Vladimir Horowitz, verlasse ich bereitwillig meinen Klavierhocker, um mich von seiner hochkarätigen Kunst bescheinen zu lassen. Wir haben jedoch eine Hierarchie erlebt, die nicht auf Hochkarätigkeit, sondern auf kaltem Machtmissbrauch basiert.
Auf diese Dinge käme man relativ schnell zu sprechen, wenn Sie fragen, warum das die Menschen mitgemacht haben. Viele waren im Orchester oder im Opernchor, haben furchtbar gelitten, wussten aber: Ich habe zwei Kinder, ich lebe davon, ich kann nicht einfach jetzt freiberuflich anfangen – so wie ich das jetzt gerade tue. Sie haben sich irgendwie durchgekniffen, haben darunter gelitten, dass sie Maske tragen mussten oder dass viele Menschen als «Ungeimpfte» ihre Konzerte nicht mehr hören konnten. Sie haben irgendwie versucht, in diesen schrägen Verhältnissen durchzukommen.
Und das hat jeden getroffen, egal an welcher Institution er war. Die Freiberuflichen hat es eben anders getroffen. Viele Menschen aus den Kreisen, mit denen ich sehr verbunden war und noch immer bin, haben in diesen Jahren einen sehr anderen Weg genommen, weil sie teils schon viel weiter aus dem System draußen waren: bei anderen Krankenkassen, nirgendwo angestellt, sie geben Privatunterricht oder lehren nur an freien Musikschulen.
Sie haben sich letztendlich entschieden, die Hochschule zu verlassen. Wann war das?
Im Sommer 2022 habe ich mich von der Hochschule getrennt – wir haben mit Hilfe des Juristen Alexander Christ einen Aufhebungsvertrag vereinbart. Die langen Monate der Krankschreibung galten der Durchringung der Frage: Ob ich unter diesen mir vorgesetzten Bedingungen und dem Vom-Tisch-Wischen meines Aufschreis weiterhin guten Gewissens meine Kraft und meine Kunstausübung in den Dienst dieser Institution würde stellen können und wollen? Die Antwort war schließlich – nein.
Ich habe mir damit erstens die Aufgabe vorgelegt, mich irgendwie wieder in einen Kulturbetrieb einzureihen, und zwar nicht mehr als der Ausbildung von Sängern dienender, sondern als selbst auftretender Musiker, der nicht im entscheidenden Moment den Orchestersatz des eigenen Klavierspieles an ein Orchester übergibt, sondern der als Pianist selbst auf der Bühne steht.
Dabei handelt es sich natürlich um einen Kulturbetrieb, der nicht nach einem 53-Jährigen ruft – der Markt ist durch junge Musiker gesättigt. Zudem ist es ein Kulturbetrieb, der großteils kaputtgespart und zwischenzeitlich ein Zweiklassenbetrieb wurde: Ich durfte als Musikliebhaber abends nicht in das Theater, wo meine Studenten sangen, die ich selbst mit ausgebildet hatte – bis zu dieser Absurdität kam es.
Ich mag in meiner Seele Anlagen finden zu Belastbarkeit, Duldsamkeit, hingebungsvollem Dienst am Menschen und schließlich Demut. Anlagen zur Selbsterniedrigung und zum Masochismus finde ich nicht.
In eben diesen Kulturbetrieb möchte ich mich eingliedern – und möchte es auch wieder nicht, da ich mich von dem, wie der subventionierte Betrieb läuft, schon sehr entfremdet habe. Das heißt, ich bin irgendwie rausgeworfen aus einem zwar umkämpften Feld, in dem ich jedoch finanziell abgesichert war, und werfe mich auf einen Musikmarkt, wo ich jetzt sehen muss, wie ich freiberuflich weitermache, und das möglichst, bevor die Altersvorsorge, die ich gerade aufbrauche, abgeschmolzen sein wird.
Mit dieser Entscheidung lege ich meiner Biografie im Spezielleren aber auch die Frage vor, inwieweit mein Klavierspiel in seiner Eigenständigkeit irgendwo in der Welt gesucht, gefragt, aufgenommen sein möchte, und ob ich mich traue, das nach außen zu bringen. Ob mir das gelingt und ob da eine Antwort kommt.
Und damit meine ich nicht eine irgendwie geartete Karriere, einen Namen oder große Säle. Sondern das, was ich persönlich für mich spezifisch künstlerisch entwickelt habe, weitestgehend parallel und im Verborgenen während 25 Jahren Hochschularbeit, vor Menschen zu bringen und seien es 25 Zuhörer bei einem Wohnzimmer- oder Hauskonzert. Und ob ich dort eine individuelle Antwort auf mein individuelles künstlerisches Entwicklungsstreben bekomme, das ist für mich die sehr große, noch übergeordnete Frage, die ich mit dieser Hochschulentscheidung sozusagen implizit auch mir vorgelegt habe.
Sie sind an den Wirkstätten der alternativen Kulturszene zu hören.
Ja, ich hatte dieses Jahr mehr Konzerte als in den letzten zehn Jahren zusammen, was aber immer noch weit unter dem liegt, was ein langjährig konzertierender Musiker als normal erachten würde. Ich habe im Rahmen des Korrepetitor-Daseins in weiten Teilen eine Art Dienstleistungsklavier gespielt. Und jetzt versuche ich, mir den Mut anzueignen, um zu sagen: Marta Murvai und Veit Wiesler spielen beim «Festival Wort & Musik Weimar» Strauss-Violin-Sonate oder Stephan Schrader und Veit Wiesler spielen Brahms-und Rachmaninoff-Cello-Sonate in einem Hauskonzert. Vielleicht auch demnächst mal ein Solo-Recital zu wagen, all das fordert künstlerisch, menschlich und nervlich anderes von mir. Und dieser Herausforderung versuche ich mich zu stellen.
Wer unterstützt Sie auf diesem Weg?
Alle mir nahen Menschen, mit denen ich das Gefühl habe, dass ich mich auf Augenhöhe austauschen und bestärken kann. Da sind viele Weggefährten aus alten Zeiten dabei, mit denen sich die Verbindung in der «Corona»-Zeit noch einmal zusammengeschweißt und verstärkt hat.
Da sind auch etliche dabei, die ich erst in diesen Zeiten kennengelernt habe und mit denen die Schönheit der Freundschaft sich erst im Feuer dieser wilden Zeiten geschmiedet hat. Denn schon am Beginn der Freundschaft wuchs man in das Gefühl hinein, dass man sich wirklich aufeinander verlassen kann, miteinander durch dick und dünn geht.
Auf die ganze «Corona»-Zeit bezogen würde ich sagen: Was Gold ist, glänzt seitdem noch stärker, anderswo aber hat sich auch die Spreu vom Weizen getrennt.
In welcher Musik, bei welchen Komponisten oder Werken finden Sie Trost, Aufmunterung und Kraft?
Natürlich bei den ganz Großen: Bach, Mozart, Beethoven; aber auch bei Brahms, Schumann oder Rachmaninoff. Alle Großen sind sozusagen noch strahlender geworden und das, was sie uns geben können, wurde für mich noch wertvoller, weil man so viel aus dem Abgrund zu ihnen aufblickt und sich an ihnen wieder emporarbeiten kann. Das ist das eine.
Das zweite ist unabhängig von den Werken: In der Musik selbst trat mir ein Gebiet nochmal existenzieller gegenüber, das ich mit meiner eigenen Seele und meinem offenen Geist betreten kann und das aus sich heraus mir ganz viel Kraft schenkt, indem es sich durch mich selbst gestaltet. Denn es ist ein Gebiet, in dem die Kämpfe, die wir nach außen durchzufechten hatten, und noch haben werden, schon in einer denkbar schönsten Art und Weise durchrungen wurden. Und das Strahlende, das daraus resultiert, ist uns nun zugänglich, wenn wir unser Herz öffnen und uns dort hineinbegeben. So war ich elf Monate fast ausschließlich an meinem Flügel, bei mir zu Hause, und habe auch über das Improvisieren sehr viel Kraft geschöpft. Unabhängig von allen äußeren Widrigkeiten, die uns in den Jahren vor die Füße gelegt wurden, wieder die eigene existenzielle Verbindung zur Musik zu spüren, war beglückend. Es war ein Stoßseufzer gen Himmel, zu erkennen – das mag jetzt pathetisch klingen, aber so empfand ich es: Es-Dur ist noch da. Nichts ist verloren!
Und einen dritten Punkt möchte ich ansprechen – noch eine Stufe intimer – und der war für mich wirklich rettend: Ich habe sehr viel nachts im Dunkeln gespielt, sehr leise – weil meine Stimmung danach war und um die Nachbarn nicht zu stören. Ich habe sehr oft in Tränen gespielt. Und zu erleben, dass es möglich ist, schluchzend am Klavier zu sitzen, ganz zaghaft die Hand nach einer Note auszustrecken. Und ich sage bewusst nicht Taste, sondern Note, denn die Seele streckt sich zu dem Ungewissen, aber Realen der Note, des Tones, der im Geistigen verbleibt und dessen äußeren Widerschein wir über die Taste und Saite dann auch im äußeren Ton erhaschen mögen.
Und dass in dem ganzen Dunkeln, wenn ich dann in stiller Abgeschiedenheit höre, lausche und mich einlasse, etwas von der Musik – von der anderen, der geistigen Seite, von La Musica, der Göttin der Musik – kommt, das nicht nur klingt und nach wie vor existiert, sondern das regelrecht jubelt. Ich saß also schluchzend am Klavier, doch was ich beim Spielen hörte, war teilweise hymnisch, war Lobpreis, ja – Sonnengesang.
Das war eine existenzielle Erfahrung, die mich seitdem trägt und nicht mehr verlassen hat: Da ist etwas, das unsere momentane Verfasstheit, so dicht und bedrängt sie auch sein mag, von der geistigen Seite her lichtvoll durchbricht und uns trägt.
Haben sich für Sie auch neue musikalische Wege eröffnet?
Ich spiele mit wunderbaren neugewonnenen Musikern, zum Beispiel mit der Berliner Geigerin Marta Murvai oder dem Cellisten Stephan Schrader zusammen, die sich wie viele seit diesen Zeiten neue Wege und neue Auftrittsmöglichkeiten suchen. Außerdem habe ich im Heidelberger Raum um den Flötisten Gregor Schulenburg wunderbare Musiker mit weiten musikalischen und vielfältigen stilistischen Hintergründen gefunden, mit denen ich sehr hoffnungsvoll bin, dass ich meine nicht klassische Seite des Musizierens und des Improvisierens, sei es jazzmäßig oder ganz frei, noch mal neu befragen kann. Ich bin sehr gespannt, welche Art von Musik daraus erstehen wird.
Schon allein in der kurzen, neu freiberuflichen Zeit durfte ich zudem zahlreiche vielversprechende Spielstätten kennenlernen, die sich seit Jahren etwas abseits der ausgetretenen und brüchigen Pfade des Musikbetriebs zu bilden und zu vernetzen beginnen – zuletzt in Cottbus und Tübingen. Freidenkende und mutig gestaltende Menschen schaffen dort Räume, damit jenseits der alten und subventionierten größeren Strukturen freie Kunst- und Musikausübung, freies Wort möglich sind. Was sich da im Weiteren ergeben mag, ist noch völlig offen, und ich strecke zart und vorsichtig meine Fühlerchen hinein.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
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