Stimmen, die einem offiziellen Narrativ widersprechen, sind auf CNN selten. Eine solche Ausnahme ist ein gestriges Interview über den Konflikt zwischen Israel und Palästina. Umso bemerkenswerter ist es, weil die Kritik am Vorgehen Israels vom israelischen Knessetmitglied Ofer Cassif stammt. Hinzu kommt, dass das Gespräch in der Sendung «Amanpour and Company» der Propaganda-Koriphäe Christiane Amanpour gehalten wurde. Die Moderatorin Michel Martin spricht darin mit dem Politiker über verschiedene Aspekte des Konflikts, darunter die Krise im Gazastreifen, die Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland und die Rolle der USA.
Gegen den linken Gesetzgeber Cassif wurde ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet, weil er eine Petition an den Internationalen Gerichtshof (IGH) zur Untersuchung des israelischen Vorgehens im Gaza-Streifen unterstützt hat. Er ist der Meinung, dass sich der IGH mit der Angelegenheit befassen sollte.
Doch im Schatten des Gaza-Krieges sind auch die Palästinenser im Westjordanland eine Zielscheibe der israelischen Streitkräfte (IDF) und der jüdischen Siedler. Cassif macht klar:
«Im Westjordanland findet seit vor dem Massaker vom 7. Oktober eine ethnische Säuberung statt. Drei oder vier Tage vor dem Massaker der Hamas besuchte ich das Jordantal, einige Viehzüchter, Gemeinden von Palästinensern im Westjordanland. Und ich stellte fest, dass bereits vier Gemeinden völlig ausgelöscht waren. Sie mussten fliehen, weil die Siedler mit Unterstützung der Besatzungstruppen täglich Pogrome verübten. Wir sprechen über ein Gebiet, das doppelt so gross ist wie die Stadt Tel Aviv. Und seit dem 7. Oktober hat sich das auf [weitere] palästinensische Gemeinden ausgeweitet, die buchstäblich untergegangen sind. Es findet eine ständige ethnische Säuberung statt.»
Der Politiker betont, dass er den Angriff der Hamas am 7. Oktober verurteilt. Er selbst habe an dem Tag Freunde verloren. Er wolle seine Ablehnung klarstellen, weil Kritik am Gaza-Krieg von manchen als Unterstützung der Hamas angelegt werde. Weiter teilt er mit:
«Mehr als 20 palästinensische Gemeinden, unschuldige Hirten, arme Menschen, die ich besucht habe – viele von ihnen kenne ich persönlich, gute Menschen, die nichts mit Gewalt oder was auch immer zu tun haben – werden ständig, täglich, mindestens seit Jahren, angegriffen. Es ist mehr als ein Jahr her, seit ich zum ersten Mal einen Brief an Yoav Gallant, den Verteidigungsminister Israels, geschickt habe. Und in diesem Brief habe ich als Mitglied der Knesset gesagt, dass es im Westjordanlend Pogrome von Siedlern gegen die Palästinenser gibt: Bitte hör auf damit. Du musst es stoppen. Erstens, weil es kriminell ist, und zweitens, weil es das alte Regime in die Luft jagen wird. Jeder wird den Preis zahlen. Es wird ein Blutvergiessen geben, wie wir es noch nie erlebt haben. Das habe ich acht oder sieben Monate vor dem Massaker vom 7. Oktober gesagt. Und seitdem habe ich wohl weitere zehn Briefe dieser Art verschickt. Bis jetzt habe ich keine einzige Antwort vom Minister erhalten.»
Die Frage, ob die israelische Öffentlichkeit dasselbe wie er in Gaza und im Westjordanland sehe, verneint Cassif dezidiert. Mit wenigen Ausnahmen würden die israelischen Medien das, was in Gaza und im Westjordanland vor sich geht, verheimlichen oder ignorieren. Sie täten das zudem freiwillig, ohne Druck seitens der Regierung. So wisse die Bevölkerung nichts darüber, und die grosse Mehrheit wolle es auch gar nicht wissen:
«Es ist sehr schwer, einen Bösewicht zu sehen, wenn man in den Spiegel schaut.»
Dem ist hinzuzufügen, dass die Medien seit dem 7. Oktober nicht alles freiwillig einschränken. Wie The Intercept im Dezember mitteilte, hat die Militärzensur nach dem Beginn des Gaza-Krieges acht Themen eingeschränkt, darunter Sitzungen des Sicherheitskabinetts, Informationen über Geiseln und Berichte über Waffen, die von Kämpfern im Gazastreifen erbeutet wurden. Sogar CNN ist von dieser Zensur der israelischen Streitkräfte betroffen (wir berichteten).
Auf den Widerspruch angesprochen, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Krieg im Gazastreifen zwar unterstützt, sich aber gleichzeitig gegen den Premierminister Benjamin Netanyahu wendet, erklärt Cassif: Viele Israelis würden Netanyahu die Schuld oder zumindest einen Teil der Verantwortung für das Massaker vom 7. Oktober geben, «und das zu Recht, denn er ist verantwortlich für seine langjährige Politik»:
«Er sagte 2019 ausdrücklich, und ich zitiere ihn fast wörtlich: Wer sich wie er gegen einen palästinensischen Staat ausspricht, muss die Palästinensische Autonomiebehörde schwächen und die Hamas stärken. (…) Sogar [Finanzminister Bezalel Yoel] Smodric sagte 2015, und ich zitiere: Die Palästinensische Autonomiebehörde ist eine Belastung, die Hamas ist ein Gewinn. (..) Sie wollten, dass die Hamas stark ist, als Teil des klassischen kolonialistischen Teile und herrsche. Und sie wollen, dass die Fanatiker der Hamas stärker werden, um eine Ausrede zu finden und zu sagen, dass es niemanden gebe, mit dem man reden könne. Sie wollten es. Sie (…) liessen Millionen von Dollar aus Katar in die Taschen der Hamas fliessen. Es ist kein Geheimnis, das weiss jeder. Er [Netanjahu] ist verantwortlich und deshalb wollen ihn viele Israelis einfach nicht als Premierminister. (...) Manche sagen sogar, er sei schuldig. Gleichzeitig denken viele von ihnen, dass der Krieg weitergehen muss.»
Cassif zählt sich nicht dazu, wie ihm zufolge auch viele andere Israelis. Insbesondere viele Familien der in Gaza festgehaltenen Geiseln seien gegen den Krieg. Sie wüssten, dass der Angriff auf Gaza weder zu Israels Sicherheit noch zur Befreiung der Geiseln führt. Immer mehr Menschen würden das verstehen. Der Abgeordnete glaubt, dass sich die Atmosphäre in diese Richtung am verlagern ist, wenn auch langsam.
Von der Kritik der US-Regierung gegenüber dem Vorgehen Israels hält Cassif wenig, denn:
«… ohne ihre Zustimmung hätte es den Angriff auf Gaza und diese schreckliche Zahl an Todesopfern eigentlich nie gegeben.»
Cassif erkennt in Biden eine Art kognitive Dissonanz. Einerseits spreche er über die schlimme und ernste Lage der Palästinenser in Gaza. Andererseits sei das ohne die Unterstützung der USA nicht möglich gewesen. Er erwähnt beispielsweise, dass die USA gegen jeden Antrag im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit Kritik an Israel ein Veto einlegen:
«Das ist eine Unterstützung, die ich nicht akzeptiere. Ich möchte es ganz klar sagen: Es ist keine Unterstützung für Israel und die Israelis, sondern eine Unterstützung für die israelische Regierung, die sich gegen die Israelis richtet. Als Opposition bin ich der israelischen Öffentlichkeit verpflichtet und versuche, meinen Job zu machen. Und zu meiner Aufgabe gehört es, gegen die Regierung still zu stehen, wenn die Regierung Unrecht hat, geschweige denn sündigt. Und Bidens Regierung handelt mit der Unterstützung der israelischen Regierung gegen die Justiz, gegen die Palästinenser, aber auch gegen die Israelis.»
Als Martin einwendet, Cassifs Sicht entspreche nicht derjenigen der Mehrheit, antwortet der Abgeordnete:
«Zunächst einmal haben Sie vielleicht Recht. Das untergräbt aber nicht meine Verpflichtung, meine Stimme zu erheben und die Tausenden und Hunderttausenden Israelis und viele Menschen ausserhalb Israels zu vertreten, die meine Ansicht unterstützen. Aber ich denke, dass wir uns beide darin einig sind, dass Umfragen hauptsächlich der Statistik und nicht der politischen Entscheidungsfindung dienen.»
Cassif macht sich keine Hoffnungen, dass der bevorstehenden Besuch einer Delegation von Geheimdienst- und Militärmitarbeiter aus Israel in Washington den geplanten Angriff auf Rafah im Süden des Gazastreifens verhindern kann. Netanjahu hätte dem von den USA vorgeschlagenen Besuch einzig aus Respekt vor Joe Biden zugestimmt:
«Ich denke, zu sagen, dass eine Invasion in Rafah falsch ist, ist eine Untertreibung. Es wird ein Gemetzel sein. Die Zahl der Toten und das Blutvergiessen werden noch katastrophaler sein als bislang.»
Mit Bezug auf seine Rolle als Oppositioneller verweist Cassif auf die Geschichte eines einsamen Demonstranten vor dem Weissen Haus während der US-Invasion in Vietnam. Er glaubt, dass öffentliche Demonstrationen, wie die vor der US-amerikanischen Botschaft in Israel, Veränderungen bewirken können. Der Politker schliesst mit der Feststellung, dass er und andere die Hoffnung für beide Völker in der Region sind, auch für die Israelis.
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