Als die «schlimmsten Tage des Staates seit 1948» bezeichnet der israelische Historiker Tom Segev im Interview mit der Schweizer Zeitung Die Weltwoche die Zeit seit dem überraschenden Hamas-Überfall am 7. Oktober. Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe des Blattes erschienen.
«Es ist noch nie vorgekommen, dass Teile unseres Gebietes erobert worden sind. Und es ist noch nie vorgekommen, dass an einem einzigen Tag tausend Israelis ermordet worden sind.»
Segev gilt als Historiker, der immer wieder offizielle Legenden und Mythen in Israel in Frage stellte. Zugleich wird der Autor von Büchern wie «Es war einmal ein Palästina» und «Die ersten Israelis» zu den bedeutendsten Historikern seines Landes gezählt, wie die Weltwoche schreibt.
Im Interview stellt es fest, dass alle Konzepte, mit denen die israelische Regierung die Bürger des Landes beruhigt habe, versagt hätten. «Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat wiederholt versichert, dass die grossen Probleme Israels unter Kontrolle seien. Es seien keine schwerwiegenden Entscheidungen nötig.»
Dazu gehöre auch, «dass die Unterdrückung der Palästinenser weitergehen könne und dass da kein Handlungsbedarf bestehe». Die Netanjahu-Regierung habe auch behauptet, «dass die Palästinenser im Gazastreifen zufrieden wären, wenn wir ihnen genügend Jobs in Israel anböten, mit denen sie ihre Familien und deren Angehörige ernähren könnten».
Der Historiker bestätigt den Eindruck, dass die Regierung beziehungsweise deren Mitglieder mit unterschiedlichen Aussagen zur Lage für Verwirrung sorgen würde. Der Staat verhalte sich «derzeit so unerfahren, als wäre er erst eine Woche alt». Obwohl Staaten Pläne für Notsituationen haben sollten, wirke in Israel derzeit alles «improvisiert».
Zu den Ursachen des neuen Gewaltausbruchs sagt Segev:
«Unser Konflikt mit den Palästinensern ist uralt. Er begann schon vor der Gründung Israels. Ich sehe da keinen Ausweg. Vielleicht bräuchte es dazu ein Ereignis biblischen Ausmasses, um einen Neuanfang einzuleiten.»
Israel habe einen «Anteil an der palästinsischen Tragödie und trägt eine gewisse Verantwortung», so der Historiker, der aber nicht von israelischer Schuld sprechen will. Das palästinensische Trauma werde durch «die islamische Ideologie, die islamistische Diktatur und die korrupte Regierung verschärft».
Auf den Hinweis, dass er in seinem neuen Buch «Jerusalem Ecke Berlin» schreibt, Israelis und Palästinenser hätten vielleicht noch nicht genug gelitten, sagt er, seine Vorhersagen hätten sich «noch nie bewahrheitet». Er gesteht ein, dass auch die israelische Armee Kriegsverbrechen begangen habe, wenn auch nicht tausend Menschen erschossen. Zu der von Tel Aviv angekündigten Totalblockade des Gaza-Streifens meint er: «Das sind Dinge, die mir Sorgen machen und bei denen ich mich frage, was sie bringen.»
Segev ist der Ansicht, dass Netanjahu in Folge der Fehler, die zum Überfall der Hamas und dessen Überraschungseffekt geführt hätten, sein Amt verlieren wird. So habe Israel eine Milliarde Dollar für den Ausbau der Grenzanlage zu Gaza ausgegeben.
«Und dann kam die Hamas mit einem kleinen Bulldozer, der wenig kostet, und riss den Zaun nieder, als wäre er nie da gewesen. Wie ist das in einem modernen Staat möglich?»
Die Fehler, die zu der Tragödie geführt hätten, würden nach und nach ans Licht kommen, so der Historiker. Das werde Netanjahu nicht überleben, ist er sich sicher. «Es sei denn, es geschehe noch ein Wunder», fügt er hinzu und erinnert an die frühere Regierungschefin Golda Meir. Ein Film über sie habe ihre Rolle im Vorfeld des «Jom-Kippur-Krieges» 1973 verschwiegen und damals erfolgreich die Bevölkerung abgelenkt.
Inzwischen gibt es Berichte, wonach die israelische Militärführung die Menschen im Gaza-Streifen auffordert, «in den Süden» zu fliehen. Das soll angeblich helfen, bei dem anstehenden israelischen Einmarsch zivile Opfer zu vermeiden, heisst es aus Tel Aviv.
Segev sagt dazu gegenüber der Weltwoche, das «käme einer Deportation gleich». Israel könne sich so viel Gewalt gegenüber den Palästinensern leisten «wie die Welt zulässt», erklärt er. Niemand helfe den Palästinensern, die immer wieder im Stich gelassen worden seien: «Sie sind das Waisenkind der Geschichte.»
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