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Inmitten der dramatischen Entwicklungen der Gegenwart bekommen zwei Stimmen Gewicht, die eine tiefere Perspektive auf die aktuellen geopolitischen Spannungen werfen. Die eine gehört dem verstorbenen Aldous Huxley, britischer Autor des weltberühmten, klassischen Science-Fiction-Romans «Brave New World». Die andere Stimme stammt von Jeffrey Sachs, einem renommierten US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Universität Columbia, der sich vor kurzem in einer aufsehenerregenden Rede vor dem Europäischen Parlament äußerte.
Beide Denker beleuchten, was in unserer Welt auf dem Spiel steht – und bieten uns wertvolle Einsichten, die weit über die aktuellen Schlagzeilen hinausgehen. Der Westschweizer Journalist Jacques Pilet publizierte auf der Plattform Bon pour la tête einen luziden Artikel dazu auf Französisch.
Aldous Huxley, bekannt durch seine dystopischen Romane, hinterließ auch ein Werk, das sich intensiv mit den Mechanismen des Krieges und der Kriegspropaganda auseinandersetzt. 1937 veröffentlichte er sein «Plädoyer für den Weltfrieden und Enzyklopädie des Pazifismus», ein Buch, das sich mit den psychologischen und politischen Strategien befasst, die hinter kriegerischen Auseinandersetzungen stehen. Auch wenn es in einem historischen Kontext der Zwischenkriegszeit geschrieben wurde, sind seine Warnungen heute genauso relevant. Darauf weist Pilet hin.
Huxley, ein überzeugter Pazifist, analysiere scharf die Rolle von Kriegspropaganda und den wirtschaftlichen sowie politischen Interessen, die Kriege antreiben. Besonders kritisiere er die Art und Weise, wie die öffentliche Meinung manipuliert wird, um Kriege zu legitimieren – sei es durch die Förderung des Nationalismus oder durch das Schüren von Hass gegen den «Feind». Besonders bemerkenswert sei Huxleys Argument, dass Patriotismus oft nicht nur ein natürlicher, sondern auch ein gefährlicher Trieb sein könne, wenn er auf Arroganz und Intoleranz basiert. Ein Patriotismus, der «die Völker entzweien und zu Massenmord führen kann», sei nach Huxleys Auffassung keineswegs gerechtfertigt.
Huxley beschreibe auch die Rolle von Geheimabkommen und der Waffenindustrie, die Kriege aus ökonomischen und psychologischen Gründen befeuert, so Pilet weiter. Dabei zeige er eindrucksvoll, wie Kriege nicht nur aus geopolitischen, sondern auch aus kommerziellen Interessen heraus geführt werden – eine Erkenntnis, die insbesondere angesichts der aktuellen Rüstungsindustrie nachdenklich stimmt.
Besonders aktuell sei Huxleys Analyse der Kriegspropaganda, die heute genauso funktioniere wie damals. «Wenn ein Krieg ausbricht, ist es genauso notwendig, die öffentliche Meinung zu entflammen und die Feindschaft zu schüren, wie die Armeen mit Munition zu versorgen», schreibe er prophetisch. In einer Welt, in der gefälschte Bilder und manipulierte Nachrichten immer häufiger eingesetzt werden, sei seine Warnung vor der Macht der Medien um so mehr relevant.
Jeffrey Sachs, der in den letzten drei Jahrzehnten als Berater führender Politiker und Institutionen weltweit tätig war, brachte seine Sicht auf die Weltpolitik kürzlich im Europäischen Parlament zum Ausdruck (wir berichteten). In seiner Rede verurteilte Sachs die US-Außenpolitik und ihre oft aggressiven Interventionen in Ländern wie dem Irak, Libyen, Syrien und der Ukraine. Laut Sachs streben die USA seit Jahrzehnten nach einer weltweiten Hegemonie, stets im Namen von Demokratie und Freiheit. Doch hinter dieser Rhetorik steckten vor allem geopolitische und wirtschaftliche Interessen.
Sachs kritisierte besonders die Rolle der USA in der Ukrainekrise. Er wies darauf hin, dass die Vereinigten Staaten, trotz Zusicherungen in den frühen 1990er Jahren, der Ukraine eine Annäherung an die NATO aufgedrängt hätten – eine Entscheidung, die maßgeblich zur Eskalation des Konflikts mit Russland beigetragen habe. Während der russische Präsident Wladimir Putin anfangs versucht habe, eine Zusammenarbeit mit dem Westen zu suchen, insbesondere im Hinblick auf die Benützung der Marinebasis von Sewastopol auf der Krim, seien diese Bemühungen durch die westlichen Interventionen torpediert worden.
Sachs sieht die Europäer als Mitverantwortliche in dieser Entwicklung. Anstatt eine unabhängige Rolle in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu spielen, hätten die europäischen Staaten zu lange die Politik der USA unterstützt, ohne einen eigenen Kurs zu verfolgen. Er warnte die Europäer, dass sie, um langfristig Frieden und Sicherheit zu gewährleisten, ein eigenständiges außenpolitisches Konzept entwickeln müssen, das nicht von den Interessen der USA dominiert würde.
Sachs‘ Einschätzung der aktuellen geopolitischen Lage ist nach Pilet drastisch. In Bezug auf die Ukraine erkläre er, dass die Kriegshandlungen im Wesentlichen vorbei seien, weil die USA, unter anderem durch den Wechsel der politischen Führung, keine langfristige Unterstützung für ein verlorenes Kriegsziel leisten würden. Diese pragmatische Analyse stelle die Frage: Was sind die wahren Interessen der westlichen Mächte in der Ukraine? Laut Sachs hätte eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine längst erzielt werden können, wenn Europa stärker auf eine diplomatische Lösung gedrängt hätte.
Doch Sachs ist sich der Komplexität der Situation bewusst und warnt vor einer fortgesetzten Unterstützung einer militärisch schwachen Ukraine, die sich ohne einen echten Friedensprozess in einer Position der Schwäche befände. Anstatt sich weiter in einem Stellvertreterkrieg mit Russland zu verstricken, solle Europa aktiv auf eine Lösung hinarbeiten.
Ob man mit den Thesen von Huxley und Sachs übereinstimmt oder nicht, beide Stimmen würden wertvolle Einblicke bieten, die über die bloßen Schlagzeilen hinausgehen, schreibt Pilet. Huxley fordere uns auf, die Mechanismen von Krieg und Gewalt zu hinterfragen und die wahren Beweggründe hinter nationalistischen und imperialistischen Bestrebungen zu erkennen. Sachs, auf der anderen Seite, zeige auf, wie politische Entscheidungen in den USA und Europa die Welt in einen Zustand ständigen Konflikts versetzen können.
Beide würden zu einer differenzierten Betrachtung der aktuellen Krise mahnen und uns auffordern, die geopolitischen Strukturen und die Machtinteressen zu durchschauen, die den aktuellen Konflikt anheizen. Es liege an uns, diesen Stimmen Gehör zu schenken und eine alternative Perspektive zu entwickeln, die über die kurzfristige Politik hinausblickt.