Die westlichen Politiker übersehen nicht die Konsequenzen ihres Handelns. Das stellte der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Harald Kujat am Freitag in Berlin fest. Das Verhalten der Politiker folge der «3I-Strategie: Inkompetenz, Ignoranz und Ideologie».
Er sprach in einer Veranstaltung der Reihe «Reden im Raum», welche der Journalist Patrik Baab gemeinsam mit Unterstützern organisiert. Baab stellte an dem Abend im Berliner «Sprechsaal» dem ehemaligen obersten Bundeswehrsoldaten Fragen vor allem zum Ukraine-Krieg, aber auch zur neuen deutschen «Kriegstüchtigkeit» und zu Chancen für Frieden.
Kujat kritisierte dabei deutlich die bundesdeutsche Aufrüstungspolitik, die mit der angeblichen neuen russischen Gefahr begründet werde. Doch diese existiere gar nicht, sagte er mit Verweis auf einen längeren Beitrag, den er einige Tage zuvor in der Wochenzeitung Preußische Allgemeine dazu veröffentlicht hatte.
Es gehe nicht um «Kriegstüchtigkeit», sondern höchstens um «Verteidigungsfähigkeit» entsprechend den Vorgaben des Grundgesetzes, sagte der Ex-General. Auf die Frage von Baab, ob die Kriegstreiber absichtlich Angst vor Russland schüren, sagte er:
«Ja, das ist ganz sicher. Also ich für mich habe zwei Erklärungsmuster. Das eine ist: Sie haben nun drei Jahre lang unsere Öffentlichkeit belogen und müssen in gewisser Weise ihr Fehlverhalten legitimieren. Das zweite ist, dass damit auch begründet werden soll, weshalb wir so viel Geld jetzt schlagartig in die Rüstung stecken.»
In dem Zusammenhang machte er auch auf die jährliche Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste aufmerksam, die 2024 feststellte, dass Russland weder in der Lage sei, in den nächsten Jahren einen Angriff gegen die NATO vorzutragen, noch die Absicht dazu habe. Die entsprechende Analyse in diesem Jahr sei «mit anderen Worten im Grunde zum gleichen Ergebnis» gekommen.
«Deshalb muss man sich wirklich fragen: Was treibt unsere Politiker und diese sogenannten Militärexperten eigentlich an, wenn sie so etwas behaupten?»
Der Journalist wollte vom Ex-General unter anderem wissen: «Wird Putin seine Kriegsziele in der Ukraine erreichen?» Er bekam zur Antwort, dass erstmal geklärt werden müsse, was denn die russischen Kriegsziele sind. Kujat erklärte, seiner Meinung nach habe der russische Präsident Wladimir Putin nicht den Befehl gegeben, die ganze Ukraine zu erobern.
Patrik Baab (links) und General a.D. Harald Kujat (alle Fotos: Tilo Gräser)
Der Verlauf des Krieges, auch zu Beginn 2022, zeige, dass Russland zwar einen Führungswechsel in Kiew anstrebte, aber nie die Absicht hatte, das ganze Land einzunehmen. Das werde schon an der Zahl von etwa 190‘000 russischen Soldaten deutlich, die einmarschierten und denen mehr als 400‘000 ukrainische Soldaten gegenüberstanden.
Als das erste Ziel nicht erreicht worden sei, habe die russische Armee «Plan B» verfolgt, die Eroberung und Sicherung der vier Oblaste im Süden und Osten der Ukraine. Aber auch dieses Ziel sei bis heute nicht vollständig erreicht worden.
Baab und Kujat gingen in ihrem Gespräch auch auf den aktuellen US-Friedensplan für die Ukraine ein. Uber den sprach am selben Tag der US-Sondergesandte Steve Witkoff in Moskau mit Präsident Putin. Neu daran sei, dass die USA das ostukrainische Kernkraftwerk Saporischja übernehmen wollen, und dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden könnten.
Der frühere oberste Bundeswehrsoldat wies daraufhin, dass der im März vereinbarte Teilwaffenstillstand für das Schwarze Meer scheiterte. Das sei geschehen, weil die EU es ablehnte, die Sanktionen aufzuheben, wie es Russland gefordert habe.
«Und es war gerade der deutsche Bundeskanzler Scholz, der als Erster gesagt hat, die Sanktionen werden nicht aufgehoben. Ich halte das für einen gewaltigen Fehler, weil damit wir sozusagen in diese Hängepartie geraten sind, in der wir uns jetzt befinden.»
Russland zeige sich dagegen kompromissbereit, so in der Frage, welche bisherigen ukrainischen Gebiete unter seiner Kontrolle bleiben. Das sei für den russischen Präsidenten eine schwierige Entscheidung, die er der eigenen Bevölkerung vermitteln müsse.
Baab wollte von Kujat auch wissen, warum US-Präsident Donald Trump nicht einfach die Waffen- und Geld-Lieferungen an Kiew stoppe, um den Krieg zu beenden. Der Ex-General stimmte zu, dass es eigentlich die einfachste Lösung wäre, konnte aber auch nicht erklären, warum diese nicht genutzt wird.
Er äußerte sich ebenfalls zu dem Bericht der US-Zeitung New York Times von Anfang April über die Verwicklung des US-Militärs in die ukrainische Kriegsführung. Dieser zeige: Ohne die Unterstützung der USA hätte die Ukraine nicht den Krieg führen können, nachdem Kiew auf westlichen Druck hin in die Friedensverhandlungen mit Moskau im Frühjahr 2022 abgebrochen hatte.
Es sei eine «große Frage», warum führende EU-Staaten wie Frankreich und Deutschland mit Großbritannien die Eskalation fortsetzen, sagte Kujat. Er sieht einen der Gründe in den innenpolitischen Verhältnissen dieser Länder. Es gebe aber auch eine Reihe von Staaten, die sich für Friedensverhandlungen einsetzen.
General a.D. Harald Kujat
Für die kriegstreibenden Politiker würden auch persönliche Gründe eine Rolle spielen: Wegen ihrer Zusagen, Versprechungen und Vergleichbarem mehr in der Vergangenheit seien sie nun in der schwierigen Situation, eine 180-Grad-Kehrtwende machen zu müssen. Der Ex-General beschrieb die aktuelle Entwicklung mit dem Bild zweier Züge, die in verschiedenen Richtungen fahren:
«Der eine Zug, im dem Trump der Zugführer ist, der fährt in Richtung Frieden, der andere Zug fährt in Richtung Krieg oder Fortsetzung des Krieges zumindest. Und das ist sehr schwierig, von diesen beiden fahrenden Zügen von einem auf den anderen umzusteigen.»
Die USA hätten die europäischen Regierungen gebeten, auf den Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einzuwirken, dass er sich kompromissbereit zeigt. Doch das sei verweigert worden, wie die Treffen in Paris und London gezeigt hätten. Die Folge sei: «Wenn man einer Partei der beiden Kriegsparteien den Rücken stärkt in der Ablehnung dieses Friedensprozesses, dann besteht eben das Risiko, dass dieser Friedensprozess insgesamt scheitert».
Angesprochen auf die Debatte um mögliche europäische «Friedenstruppen» für die Ukraine, sagte Kujat:
«Die Überwachung einer demilitarisierten Zone eines Kampfgebietes, das 1300 Kilometer lang ist, erfordert einen enormen Aufwand an Truppen, nach meiner Schätzung etwa 120.000 bis 140.000 Mann. Dazu sind die Europäer nicht in der Lage, die zu stellen.»
Zudem habe Russland mehrmals erklärt, dass es eine Präsenz von Truppen aus NATO-Staaten in der Ukraine nicht akzeptieren werde. Kujat erinnerte an einen Vorschlag, den er zusammen mit den Politologen Peter Brandt und Hajo Funke sowie dem Ex-Kanzlerberater Horst Teltschik 2023 gemacht hatte: Eine UN-Friedenstruppe zu stationieren. «Denn das ist die eigentliche Aufgabe der Vereinten Nationen, für Frieden und für den Erhalt des Friedens zu sorgen».
Eine andere Möglichkeit für eine Lösung sieht er darin, dass an die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul im Frühjahr 2022 angeknüpft wird. Vieles von dem, was dort vereinbart worden war, sei von beiden Seiten akzeptiert worden, während strittige Fragen in direkten Verhandlungen zwischen Putin und Selenskyj geklärt werden sollten.
Der frühere höchste Nato-Offizier erinnerte auch daran, dass Russland damals bereit gewesen sei, seine Truppen in die Stellungen vor dem Einmarsch zurückzuziehen. Aber bei «diesem Punkt können wir nicht mehr die Zeit zurückdrehen. Das ist ganz sicher. Aber es gibt viele andere Punkte, die sich durchaus vorteilhaft auf die Verhandlungen auswirken würden.»
Er bedauerte, dass die USA unter Trump diplomatisch ungeschickt vorgehe, indem bestimmte Vorschläge und Forderungen frühzeitig öffentlich gemacht werden. Auch die verkündeten Ultimaten seien wenig förderlich. Es handele sich um «Anfängerfehler» derjenigen in der Trump-Administration, die neu in die Politik gekommen sind.
General a.D. Harald Kujat
Derweil gebe es ein «ganz großes Risiko», erklärte Kujat: «Dass Putin nämlich jetzt zustimmt. Dann haben wir die Situation, dass wir eine völlige Übereinstimmung haben zwischen den USA und Russland und einen Gegensatz gegenüber der Ukraine und den Europäern. Das können wir nicht wollen.»
Stattdessen müsse versucht werden, Moskau und Kiew zu direkten Verhandlungen zu bewegen. Und die Europäer sollten den Schulterschluss mit den USA als engstem Verbündeten suchen und diese bei der Suche nach Frieden unterstützen. Gelinge dies nicht, habe das langfristig dramatische Folgen für Europa und für die NATO.
«Es ist für die NATO eine Zerreißprobe. Wir haben europäische Staaten, die auch NATO-Mitgliedsstaaten sind, die einen Friedenskurs fahren, etwa die Slowakei, Ungarn, teilweise auch Tschechien. Wir haben Staaten, die hilfreich sind, auch wenn sie die Position nicht voll teilen, wie beispielsweise Italien. Aber wir haben eben auch die Hardliner in der NATO wie Großbritannien und Deutschland spielt nun wirklich keine gestaltende Rolle.»
Diese Gefahr begrüßten einige im Publikum, die später in der Diskussion auch immer wieder die Rolle der Nato kritisch hinterfragten, eher. Ex-General Kujat vermutet, dass die USA sich zwar nicht ganz aus dem westlichen Militärbündnis zurückziehen werden, auch wegen der zahlreichen US-Stützpunkte in Deutschland. Aber er rechnet damit, dass unter Trump das US-Engagement reduziert wird und beispielsweise die US-Kampftruppen aus Osteuropa wieder abgezogen werden.
In den Worten des heute 83-Jährigen kam immer wieder die Hoffnung zum Ausdruck, dass bei allen Problemen eine baldige Friedenslösung für die Ukraine gefunden werden kann. Er erklärte, dass er den 12. Februar dieses Jahres als den «Tag des Wandels» sehe – der Tag, als US-Präsident Trump seinen russischen Amtskollegen Putin anrief.
Mit diesem sei bis dahin nicht mehr gesprochen worden. Mit dem Telefonat – einem «entscheidenden Schritt» – sei die russische Seite wieder auf die Bühne der Weltpolitik zurückgeholt worden, was lange Zeit verhindert worden sei.
Ein Friedensvertrag für die Ukraine sei für Trump nur ein Zwischenschritt, um das Verhältnis zu Russland wieder zu normalisieren. Kujat ging außerdem ebenso auf das Verhältnis der USA zu China ein. Auf eine entsprechende Frage von Baab antwortete er, dass er es bedauere, dass der militarisierten EU der Friedensnobelpreis nicht wieder aberkannt werden kann.
Führende Kräfte in der EU würden versuchen, politische Entscheidungen mit militärischen Mitteln herbeizuführen.
«Das geht eigentlich über das hinaus, was man diesen nicht gewählten Beamten zubilligen kann. Hier wird eine Ausdehnung der Machtbefugnisse toleriert, die nicht zu tolerieren ist.»
Patrik Baab
Baab wollte von Kujat auch wissen, was er von dem faktischen EU-Verbot für Vertreter der Mitgliedsstaaten halte, an den russischen Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus teilzunehmen. Die Antwort des ehemaligen höchsten Nato-Offiziers:
«Das ist einfach unmöglich. Ich finde das ist geradezu lächerlich. Es kann nicht ein Beamter einer solchen Behörde einem souveränen, gewählten Staatschef, sagen: Dorthin darfst du gehen und dahin nicht. Wo sind wir da eigentlich gelandet?»
Der Ex-General wurde auch nach der «Handreichung» des Auswärtigen Amtes gefragt, das offizielle Vertreter Russlands und von Belarus von deutschen Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag ausschließen lassen will. Das sei inakzeptabel, sagte er, denn «die Russen waren ja diejenigen, die hier den Sieg über Nazi-Deutschland erreicht haben». Er zitierte dazu einen Satz des norddeutschen Dichters Theodor Storm:
«Der eine fragt: Was kommt danach? Der andere fragt: Ist es so recht? Und so unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.»
Gegen Ende der Gesprächsrunde im Berliner «Sprechsaal» erinnerte er an das einseitige gute Verhältnis zwischen Nato und Russland in den späten 1990er Jahren. Damals hätte es eine «hervorragende Zusammenarbeit» gegeben: So seien zwei russische Bataillone unter deutschem NATO-Kommando im Kosovo eingesetzt worden, und die NATO habe Russland bei der Bergung des gesunkenen Atom-U-Bootes «Kursk» geholfen.
Die Nato-Russland-Grundlagenakte von 1997 sei die Grundlage dafür gewesen, erklärte Kujat. Mit dem Dokument und dem NATO-Russland-Rat sei ein Mechanismus geschaffen worden, der greifen sollte, «wenn die Zeiten schwieriger werden, wenn das Risiko von Konflikten und Gegensätzen entstehen könnte».
Patrik Baab und General a.D. Harald Kujat im Gespräch im «Sprechsaal»
Als eine solche Situation mit dem Georgien-Krieg 2008 eintrat, sei aber stattdessen der NATO-Russland-Rat und damit im Grunde auch die NATO-Russland-Grundakte suspendiert worden. Das sei «ein gefährlicher Fehler, aber vor allen Dingen ein dummer Fehler» gewesen. Es sei genau das Gegenteil von dem gemacht worden, was eigentlich für ein Krisenmanagement, für die Verhinderung von Konflikten und für die Beseitigung von Konfliktursachen notwendig sei.
Ebenso bezeichnete er es als «Fehler von historischer Dimension», dass die Chancen der Charta von Paris von 1990 für eine gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung nicht genutzt wurden. Er zeigte sich skeptisch, ob das damalige Anliegen wiederbelebt werden könnte. Für Kujat ist aber klar.
«Die Beendigung des Ukraine-Krieges ist die Voraussetzung überhaupt dafür, dass wir eine neue europäische Sicherheits- und Friedensordnung schaffen werden.»
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