Der Politikwissenschaftler Hajo Funke und der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat schreiben in einer aktuellen Analyse:
«Anhand der öffentlich zugängigen Berichte und Dokumente ist nicht nur nachvollziehbar, dass es im März 2022 eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft sowohl der Ukraine als auch Russlands gab. Offensichtlich einigten sich die Verhandlungspartner sogar ad Referendum auf einen Vertragsentwurf. Selenskyj und Putin waren zu einem bilateralen Treffen bereit, bei dem das Verhandlungsergebnis finalisiert werden sollte.»
Diese Analyse wurde kürzlich im Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus veröffentlicht. Darin zeigen die beiden Autoren, dass westliche Staaten, allen voran die USA und Grossbritannien, durch ihre Einmischung eine aussichtsreiche Friedensregelung nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 verhinderten.
Funke und Kujat haben zahlreiche Dokumente und Veröffentlichungen dazu ausgewertet, die grösstenteils öffentlich zugänglich sind. Diese zeigen auch, dass die Behauptungen zahlreicher bundesdeutscher Politiker, Russland führe nicht nur einen «Angriffskrieg», sondern auch einen «Vernichtungskrieg» gegen die Ukraine, ohne Grundlage sind. Wäre das der Fall, hätte sich Moskau nicht frühzeitig auf Verhandlungen mit Kiew über ein Kriegsende eingelassen und dabei zahlreiche ukrainische Vorschläge in einen Vertragsentwurf eingearbeitet.
«Substantielle Zugeständnisse von Putin»
Die beiden Autoren zeichnen die Verhandlungen zwischen beiden Seiten ab Ende Februar 2022 nach. Während Delegationen der Ukraine und Russlands bereits verhandelten, habe der frühere israelische Ministerpräsident Naftali Benett eine Vermittlungsmission in Moskau unternommen. Darum habe ihn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gebeten.
Dazu wird aus einem entsprechenden Bericht der Berliner Zeitung zitiert:
«In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet. (...) Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt.»
Auch die parallel laufenden Verhandlungen der beiden Delegationen in Istanbul, vermittelt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, seien aussichtsreich gewesen. Dabei habe Kiew einem Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft und auf ausländische Militärbasen zugestimmt. Moskau habe dagegen versprochen, alle eigenen Truppen abzuziehen, während es für den Donbass und die Krim Sonderregelungen geben sollte.
Die ukrainischen Vorschläge seien von der russischen Seite in einen Vertragsentwurf eingearbeitet worden. Funke und Kujat geben die Vorschläge ausführlich wieder. Sie verweisen auch darauf, dass eine Reihe westlicher Politiker diese Verhandlungen noch bis Mitte März 2022 unterstützte.
USA wollten keinen Frieden
Doch dann sei auf dem NATO-Sondergipfel am 24. März 2022 in Brüssel vom extra eingeflogenen US-Präsidenten Joseph Biden die Linie vorgegeben worden, die Friedensverhandlungen nicht mehr zu unterstützen.
«Offenkundig war ein Frieden, wie er von den russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen ausgehandelt worden war, nicht im Interesse einiger NATO-Staaten», schreiben Funke und Kujat.
Die beiden Autoren beschreiben den weiteren Verlauf der Ereignisse. Trotz der noch Ende März 2022 geäusserten Friedensbereitschaft Selenskyjs und seines russischen Amtskollegen Wladimir Putin verhinderte der Westen in der Folge ein frühzeitiges Kriegsende. Dazu wird aus der Washington Post vom 5. April 2022 zitiert:
«Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.»
Selenskyj solle «so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist».
Ebenso verweisen sie auf die Rolle des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson, der am 9. April 2022 «unangemeldet» in Kiew eingetroffen sei. Er habe laut einem Bericht der Zeitung Ukrainska Prawda Selenskyj zwei Botschaften mitgebracht:
«Die erste lautet, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei; man sollte Druck auf ihn ausüben, nicht mit ihm verhandeln. Die zweite lautet, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, es der kollektive Westen aber nicht ist.»
Johnson habe deutlich gemacht, dass der Westen die vermeintliche Chance nutzen wolle, Russland zu schwächen und Putin zu Fall zu bringen. Auch US-Kriegsminister Lloyd Austin habe nach seinem Kiew-Besuch am 25. April 2022 erklärt, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs auf Dauer militärisch und wirtschaftlich niederzuringen. Der US-Regierung sei es um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges gegangen.
Funke und Kujat zitieren dazu auch den türkischen Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu, der später festgestellt habe:
«Einige NATO-Staaten wollten, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht, um Russland zu schwächen.»
Sie geben ebenso die Einschätzung des bundesdeutschen Ex-UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg wieder, der im März 2023 in der Zeitschrift Emma schrieb:
«Auch nach dem Ausbruch des Krieges wurden alle unternommenen Friedensbemühungen von der NATO, insbesondere von den USA und UK, torpediert.»
Die beiden Autoren betonen, dass im Frühjahr 2022 eine Chance auf Frieden für die Ukraine vertan wurde. Sie heben hervor, dass die mögliche Vereinbarung in Istanbul weitgehend auf Vorschlägen aus Kiew beruhte und «durchaus den ukrainischen Interessen entsprach». Und sie stellen dazu fest:
«Umso schwerer wiegt die westliche Intervention, die ein frühzeitiges Ende des Krieges verhinderte.»
Damit seien die Staaten, «die die Fortsetzung des Krieges verlangt haben», mitverantwortlich für die «schwerwiegenden Konsequenzen für die Ukraine und deren westliche Unterstützer». Funke und Kujat sehen eine letzte Chance für eine Friedenslösung durch Verhandlungen in einem Waffenstillstand.
Schröder scheiterte mit Friedensmission
Ihre Aussagen werden unter anderem gestützt von Aussagen des Ex-Bundeskanzlers Gerhard Schröder in einem Interview mit der Berliner Zeitung Ende Oktober. Schröder war im März 2022 in Moskau und sprach mit Putin – auf ukrainische Bitte und darum begleitet vom heutigen Kiewer Kriegsminister Rustem Umjerow, wie er nun erklärte. Der Zeitung sagte er:
«Man könnte den Krieg beenden, wenn nicht geopolitische Interessen im Spiel wären.»
Und:
«Die Einzigen, die den Krieg regeln könnten gegenüber der Ukraine, sind die Amerikaner. Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit Rustem Umjerow haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie nicht durften. Die mussten bei allem, was sie beredet haben, erst bei den Amerikanern nachfragen.»
Die Verhandlungen seien trotz aller beidseitigen Zugeständnisse gescheitert, weil in Washington entschieden worden sei, dass es keinen Frieden geben dürfe. Auch die Europäer hätten versagt, so der Ex-Kanzler, weil sie nicht das «Fenster» für eine Friedenslösung im März 2022 nutzten, als Kiew selbst dazu bereit war, über die Krim zu verhandeln.
«Ich glaube, die Amerikaner haben den Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland nicht gewollt. Die Amerikaner glauben, man kann die Russen klein halten.»
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