Und fast jährlich grüsst der «Krankenkassenprämien-Schock». In der Schweiz erkennt man den Herbstbeginn gewöhnlich an den aufflammenden Debatten über die im nächsten Jahr steigenden obligatorischen Beiträge. Gleichzeitig taucht überall Werbung der Krankenkassen auf. Jede buhlt um die verprellten Kunden der Konkurrenz. Bezahlen tun das die eigenen.
Um 8,7 Prozent werden sich die Prämien 2024 im Schnitt erhöhen, der grösste Anstieg seit 2010. Schweizweit wird die mittlere Prämie für die Grundversicherung im nächsten Jahr bei etwa 360 Franken monatlich liegen. Im Tessin, wo ich lebe, werden über 26-Jährige durchschnittlich sogar rund 500 Franken hinblättern müssen. Das sind auch für Schweizer Verhältnisse für die meisten Menschen signifikante Summen, insbesondere für Familien. Die in den letzten Jahren generell massiv gestiegenen Preise machen die hohen Prämien noch einschneidender.
Felix Schneuwly, Krankenkassen-Experte von Comparis, macht auch den abtretenden Gesundheitsminister Alain Berset für den «Prämien-Schock» verantwortlich. Er habe die Krankenversicherer gezwungen, ihre Reserven abzubauen, wie früher Ruth Dreifuss und Pascal Couchepin. Mit einem Reserveabbau schöne man die Zahlen, ergänzte Stefan Felder, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Basel. Politisches Kalkül also. Und übrigens: 1,8 Milliarden Franken gingen den Krankenkassen am Kapitalmarkt abhanden.
Es grenzt an ein Wunder, dass vor lauter Prämienschocks nicht schon viele Zahlungspflichtige bewusstlos umgefallen sind. Das hat auch damit zu tun, dass etwa ein Viertel der Versicherten eine Vergünstigung erhalten. Die Behörden haben entschieden, dass diese Menschen die teuren Prämien nicht mehr alleine decken können – der Steuerzahler stopft das Loch.
Auf den Hauptgrund der ständigen Prämienerhöhungen komme ich gleich. Vorher möchte ich erwähnen, dass die Beiträge nicht nur für medizinische Leistungen und dem Betrieb der Krankenkassen verwendet werden. Sie füllen auch die Taschen der Leiter dieser Unternehmen.
Hohe Löhne
Der Spitzenreiter war letztes Jahr Andreas Schönenberger, CEO von Sanitas, mit satten 956’486 Franken inklusive Vorsorgeleistungen, berichtete die SRF-«Rundschau» letzte Woche. Danach folgten Thomas Boyer, Chef der Groupe Mutuel, mit 783’348 Franken, und Helsana-CEO Roman Sonderegger, der 750’880 einsteckte. Laut den Krankenkassen seien das «marktgerechte Löhne», teilt SRF mit. Sie würden zudem geltend machen, dass die Prämien auf die Verwaltungskosten inklusive CEO-Löhne einen minimalen Effekt hätten. Diese Kosten machen etwa fünf Prozent der Prämien aus.
Gesamtheitlich betrachtet sind diese Manager-Löhne natürlich Peanuts. Dennoch könnte, um ein anderes Verhältnis darzustellen, mit der Hälfte all dieser Vergütungen allein eines Jahres manchem «Kunden» lebenslang die Prämie bezahlt werden. Das würde für diese einen grossen Unterschied machen. Und die CEOs, COOs und so weiter hätten immer noch einen Lohn, von dem die meisten Schweizer nur träumen können. Die hohen Löhne dieser Leiter fügen sich jedoch in ein profitorientiertes «Krankheitswesen» ein.
Von den horrend hohen Gehältern und Boni der CEOs der Pharmafirmen wollen wir schon gar nicht reden. Die sind natürlich auch «marktgerecht» – als ob das diese rechtfertigen würde. «Wenn die anderen abzocken, darf ich auch», sagt man sich in diesen Kreisen. Dem Volk will man hingegen weismachen, für weniger Geld würden die guten Manager den Job nicht übernehmen. Gier ist demnach bei CEOs eine Tugend. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Pharmaunternehmen oft von der Forschung an Universitäten profitieren, die vom Steuerzahler bezahlt wurde.
Falsche Anreize
Rezepte werden in dieser Debatte um die stetig steigenden Prämien etliche angeboten, doch sie führen meistens am Kern vorbei. Und dieser besteht aus dem finanziellen Anreiz. Denn es ist unbestritten: Der medizinisch-pharmazeutische Komplex bereichert sich durch Krankheiten oder die Angst davor – nicht durch die Gesundheit. Je mehr Untersuchungen und Behandlungen stattfinden, desto mehr verdient dieser Komplex. Am allerbesten ist es für ihn, wenn diese auch noch aufgezwungen werden, wie während der «Pandemie». Die Gesundheit ist hingegen nicht lukrativ. Das führt nicht zuletzt zu einer kranken Gesellschaft. 2021 hatte ich dazu geschrieben:
«Der finanzielle Anreiz sollte auf der Gesundheit liegen, wie es im antiken China der Fall war, wo der Arzt regelmässig bezahlt wurde, solange der Patient gesund war – eine Art Gesundheitskasse. Falls der Patient krank wurde, endete die Bezahlung, bis er wieder gesund war. Kein Arzt könnte dann aus Profitgier einen Gesunden als krank erklären. Prävention wäre vorrangig, Ursachen würden behandelt werden anstatt lediglich Symptome und die Nebenwirkungen von Therapien würden mit äusserster Sorgfalt analysiert und mit den Wirkungen abgewogen werden.»
Manche wenden ein, dass dieses System im antiken China für viele unerschwinglich war. Dabei muss man jedoch bedenken, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seit damals markant verändert haben. Ich sehe keinen plausiblen Grund, weshalb ein auf einer Gesundheitskasse basierendes System teurer sein sollte als das gegenwärtige – doch viele, die auf das Gegenteil hindeuten. Die Machbarkeit hängt vom politischen Willen ab.
Solange die heutige Anreiz-Struktur bestehen bleibt, werden die Kosten und somit die Krankenkassenprämien jedenfalls weiter steigen. Eine Grundsatzdiskussion, die diese Struktur in Frage stellt, fehlt jedoch gänzlich. Lieber will man da und dort ein wenig justieren. Das überrascht nicht, wenn man die Macht der Pharmalobby bedenkt. Die Branche wird gehätschelt, sie schafft ja Arbeitsplätze. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich stellte letztes Jahr fest, die Pharmaindustrie sei «der Wachstumsmotor der Schweiz».
Doch es geht nicht nur um die Pharmafirmen. Laut Statista belief sich die Mitarbeiterzahl im Gesundheitswesen in der Schweiz im Jahre 2020 auf etwa 436’000. Das sind ungefähr 8,4 Prozent der Beschäftigten. Zehn Jahre zuvor waren es etwa 100’000 weniger. Eine gesündere Gesellschaft würde bedeuten: Zehntausende wären ihre Stelle los – ein Dilemma. Die «Gesundheitskosten» steigern nun mal das BIP. Im Jahre 2020 trugen sie 11,8 Prozent dazu bei, tendenz steigend.
Da das System selbst zahlreiche Kranke schafft, nährt es sich selbst in einer Art Perpetuum mobile – das perfekte Geschäftsmodell. In der Schweiz gibt es inzwischen mehr Apotheken als Bäckereien. Das hat selbstverständlich auch damit zu tun, dass Brot vermehrt im Supermarkt gekauft wird. Dennoch stellt diese Tatsache symbolisch den Zustand der Gesellschaft dar: Unsere tägliche Pille gib uns heute ...
Gelegentlich wird der Elefant im Gesundheitswesen anerkannt. So machte beispielsweise Tilman Slembeck, Gesundheitsökonom der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), gegenüber dem SRF-«Kassensturz» bei den Krankenhäusern einen fehlenden Anreiz zum Sparen aus. Der Preisüberwacher Stefan Meierhans nahm in der Sendung ebenfalls den Anreiz ins Visier, als er erklärte:
«Ich glaube, das Gesamtsystem ist grundsätzlich falsch reguliert. Und zwar, weil es in Richtung Mengenausdehnung angelegt ist. Je mehr man tut je mehr (sic) verdient man. Und das ist grundsätzlich falsch. Die Gesundheit kommt eigentlich erst an zweiter Stelle, zuerst kommt die Menge.»
Obligatorium abschaffen?
Die Abschaffung der obligatorischen Krankenversicherung, sprich der Zwangsfinanzierung des pharmazeutisch-medizinischen-Komplexes, wäre meines Erachtens zumindest ein erster Schritt in Richtung Kostensenkung. Schliesslich besteht das Obligatorium erst seit 1996. Und seit damals sind die Gesundheitskosten von rund 37 Milliarden Franken jährlich auf prognostizierte 92,7 Milliarden im Jahr 2023 und 95,6 Milliarden im Jahr 2024 angestiegen. Gesünder sind wir deswegen nicht, im Gegenteil. Die Bevölkerungszahl ist in diesem Zeitraum übrigens «lediglich» um etwa 25 Prozent gestiegen.
Das Obligatorium führt im Zusammenhang mit der hohen Prämie unter anderem dazu, dass die Patienten unkritisch Untersuchungen und Behandlungen in Anspruch nehmen, die vielleicht unnötig oder sogar schädlich sind. «Wenn ich schon so viel bezahlen muss, dann nutze ich es auch aus», sagen sich viele. Ein verantwortungsvolleres Verhalten der Patienten würde wiederum Druck auf das gesamte System ausüben, um die Kosten im Zaum zu halten. Der Gesundheit könnte es ebenfalls zugutekommen.
Selbst Medinside, «das Portal für die Gesundheitsbranche», plädierte 2017 dafür, am Krankenkassen-Obligatorium zu «rütteln». Peter Fischer, damals CEO der Visana-Krankenkasse, wies dabei darauf hin, dass nur etwas mehr als ein Drittel der gesamten Gesundheitskosten über die Prämien finanziert werden.
Klar ist jedenfalls: Es bräuchte einen Paradigmenwechsel. Ebenso eindeutig ist allerdings, dass der politische Wille dazu fehlt. Zu viele Akteure in der Branche haben ein finanzielles Interesse daran, den Status Quo beizubehalten. Doch irgendwann werden das aufgeblasene System und dessen Profiteure nicht mehr tragbar sein.
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