«Der Konflikt zwischen Russland und Europa wird sich nicht von selbst ‹auflösen› und nicht in einem Kompromiss enden. Auch nach dem Ende des Sondereinsatzes in der Ukraine wird Moskau in den nächsten 10-15 Jahren oder sogar noch länger keinen ‹Frieden› mit der EU haben.»
Das schreibt der russische Politologe Dmitri Trenin in einem kürzlich im russischen Magazin Profil veröffentlichten Beitrag. Darin fordert der als moderat geltende Trenin durch «glaubwürdige Abschreckung» zur «wirksamen Einschüchterung» des Gegners überzugehen, unter anderem durch die Wiederaufnahme der Atomwaffentests.
Der Politologe stellt fest, dass die USA und ihre EU-Verbündeten nicht bereit sind, sich aus dem Ukraine-Konflikt zurückzuziehen. Das geschehe auch nicht, nachdem die Hoffnungen auf einen ukrainischen Sieg über Russland zerplatzt sind. Stattdessen gebe es «eine neue Welle der Mobilisierung der Eliten des kollektiven Westens zur Konfrontation mit Moskau».
Das werde nun mit der Angst vor einem russischen Sieg in der Ukraine und der möglichen Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident begründet. Doch die westlichen Eliten würden darauf nur äusserlich nervös reagieren. Ihre Reaktion sei dagegen «systembedingt», so Trenin.
Die These, Russlands Präsident Wladimir Putin werde nach der Ukraine das Baltikum und Polen angreifen lassen, werde «trotz offensichtlicher Ungereimtheiten und offensichtlicher Unlogik» hartnäckig und «nicht ohne Erfolg» vertreten. Selbst wenn eine solche Aggression in den kommenden Jahren ausbleibe, steige aus westlicher Sicht mittelfristig die Wahrscheinlichkeit eines Nato-Krieges mit Russland.
Darauf werde mit der Wiederaufrüstung der europäischen Armeen geantwortet, ebenso mit der Umstellung des Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK) auf Kriegsbetrieb sowie der immer engeren Verflechtung von Nato und Europäischer Union (EU). Für den möglichen Ausstieg der USA werde an einem europäischen Militärbündnis mit Atomwaffen gearbeitet, schreibt der Politologe.
Westen will Russland einschüchtern
Er sieht darin mehr als Rhetorik und verweist auf das aktuelle Nato-Manöver «Steadfast Defender 2024». Bei dem grössten Manöver seit 1989 werde ein Krieg in Europa trainiert und zugleich solle damit Russland eingeschüchtert werden, «unter anderem durch die Simulation von Atomschlägen tief in seinem Hoheitsgebiet».
Letzteres geschieht unter anderem durch die Teilnahme der Kampfflugzeuge vom Typ F-35, die als Atombomber vorgesehen sind: «Der Einbezug von F-35-Kampfjets bedeutet, dass der Einsatz der Nuklearmacht eine Option im Manöver ist.», war dazu auf den NachDenkSeiten zu lesen. Trenin schreibt außerdem, dass damit auch Kräfte der russischen Strategischen Verteidigung von ihren normalen Aufgaben abgehalten werden können.
Er verweist auf weitere Elemente des westlichen Aufmarsches: Finnland und Schweden erlauben als neue Nato-Mitglieder den USA die Nutzung ihres Territoriums. Die EU will ein «militärisches Schengen» schaffen: ein ungehinderter Transportkorridor für Nato-Truppen und militärisches Gerät vom Atlantik bis zur russischen Grenze. Zudem planen die USA nach 15-jähriger Pause, in Grossbritannien wieder Atomwaffen zu stationieren.
Trenin schlussfolgert:
«Das Verhalten der europäischen Nachbarn zwingt uns dazu, die unzureichend ernsthafte Haltung ihnen gegenüber zu korrigieren, die sich in der UdSSR während des Kalten Krieges herausgebildet hat.»
Die EU sei zwar der transatlantische Vasall der USA, aber ihre herrschenden Kreise hätten «ihre eigenen Gründe, sich mit uns anzulegen». Dabei gehe es nicht um «vorgetäuschte Ängste vor einer russischen imperialen Expansion», um Ideologie oder vermeintliche historische Komplexe. Die herrschenden Kräfte der EU würden dagegen ihrer eigenen Propaganda und Emotionen erliegen:
«Europas globalistische Eliten haben sich selbst versichert, dass ein Sieg Moskaus in der Ukraine ein schwerer Schlag für ihre wichtigsten institutionellen Werte – die Europäische Union und die Nato – sein würde.»
Deshalb würden sie «ohne Rücksicht auf den Schaden für ihre nationalen Interessen» absichtlich schwere wirtschaftliche Opfer für vermeintlich höhere politische Ziele in Kauf nehmen. Trenin nennt die bewusste Deindustrialisierung Deutschlands durch die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP als «deutlichstes Beispiel».
Westen setzt auf langwierigen Krieg
Das ist aus seiner Sicht aber nicht die Hauptsache:
«Das Wichtigste ist, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal seit 1945 psychologisch nicht durch die Angst vor der russischen Macht oder vor Atomwaffen eingeschränkt sind. Sie haben einen Weg gefunden, Russland indirekt zu bekämpfen, nämlich durch die Hände der Ukrainer.»
Trenin schätzt die ukrainischen Möglichkeiten als noch nicht erschöpft ein und schreibt, dass die EU-Staaten noch zögern, eigene Truppen gegen Russland einzusetzen, und deshalb Freiwillige in die Ukraine schicken. Er stellt auch klar, dass die Nato «über ein grösseres wirtschaftliches Potenzial, technologische und finanzielle Möglichkeiten verfügt als wir».
Das westliche Bündnis setze weiterhin auf einen langwierigen Krieg in der Ukraine, «der letztlich zur Erschöpfung der russischen Ressourcen, zu einer Erhöhung der militärischen Verluste, einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und zu wachsenden sozialen Spannungen im Land führen dürfte». Wenn Russland seine Ziele in der Ukraine nicht erreiche, habe diese Niederlage schwerwiegende Folgen für die Lage im Land.
«Die ‹Optimisten› in Europa hoffen immer noch auf den Zusammenbruch des bestehenden politischen Regimes der Russischen Föderation und die anschliessende Umgestaltung des Staates im Interesse des Westens. Dadurch wird das jahrhundertealte ‹russische Problem› Europas gelöst.»
Für den renommierten Politologen, früher Leiter des Carnegie Moscow Center, funktioniert die bisherige russische Politik des Ausnutzens der westlichen internen Widersprüche nicht mehr.
«Europa und der Westen als Ganzes sind heute so stark gegen uns vereint wie nie zuvor. Weder 1812 noch 1941 und nicht einmal während des Kalten Krieges war die antirussische Front in Europa in diesem Masse geschlossen.»
Moskau ohne Verbündete in Europa
Es gebe in Europa für Moskau keinen Verbündeten oder Sympathisanten mehr. Selbst bisher neutrale Länder wie Finnland und Schweden seien entweder der Nato beigetreten oder hätten sich wie Österreich und die Schweiz den antirussischen Sanktionen angeschlossen. Länder wie Serbien seien «stark vom Westen abhängig», während EU-Mitglieder wie Ungarn und die Slowakei eher auf Zugeständnisse von Brüssel zielen als sich von Sympathie für Russland leiten zu lassen.
Die traditionellen geopolitischen und geoökonomischen Faktoren, die Europa nach 1945 stabilisierten, haben laut Trenin ihre Bedeutung verloren. Frankreich habe das «Konzept des alternativlosen Dialogs mit Moskau» aufgegeben. Deutschland habe die Energieverbindung zu Russland gekappt, «die ein halbes Jahrhundert lang ein wesentlicher Pfeiler der deutsch-russischen Beziehungen und einer der wichtigsten Pfeiler der Entspannungspolitik war».
Die Folge sei eine sehr instabile militärische und politische Lage in Europa. Trenin warnt davor, wie in Russland üblich die EU-Politiker zu verspotten, denn «die Autoren und Regisseure des sich entwickelnden Dramas sind klug, anspruchsvoll und überhaupt nicht lustig. Unterschätzen Sie nicht die Möglichkeiten, die sie haben.»
Er verweist auf das wirtschaftliche Potenzial der EU einschliesslich Grossbritanniens, auch von deren MIK, sowie darauf, dass Grossbritannien und Frankreich Atomwaffenmächte sind. Er geht auch auf die instabile gesellschaftspolitische Lage in Europa sowie auf das Aufkommen einer «konservativen Gegenelite» ein. Deren Chancen auf Machtbeteiligung seien aber gering und:
«Ausserdem sollten rechtsnationalistische Parteien nüchtern und ohne Illusionen bewertet werden.»
Trenin erinnert daran, das rechtskonservative Regierungen wie in Italien oder Polen sich «problemlos in den Nato-EU-Mainstream» einfügten und eine antirussische Politik betreiben. Zudem würden sich die europäischen Staaten darauf vorbereiten, auch ohne die USA vorzugehen, falls Trump wiedergewählt wird und einen «isolationistischen» Weg gehen will.
Chance für Russland
Der Konflikt zwischen Europa und Russland werde nicht in einem Kompromiss enden, so der Politologe. Auch nach dem Ende des Krieges in der Ukraine werde es über viele Jahre kein entspanntes Verhältnis zwischen beiden Seiten geben. Europa sei als Partner Moskaus «mindestens eine Generation lang nicht mehr relevant».
Das sei keine Tragödie, sondern eine Chance für Russland, sein eigenes Potenzial zu nutzen und weiter zu entwickeln. Die vom Westen ausgelöste Entfremdung von der EU werde die Entwicklung Russlands zwangsläufig fördern: «Wir haben begonnen, Dinge zu tun, von denen uns der Eurozentrismus früher ablenkte - Sibirien und den Fernen Osten zu entwickeln, die Zusammenarbeit mit dem sich dynamisch entwickelnden Asien und anderen vielversprechenden Regionen der Welt zu verstärken.»
Trenin schreibt, es werde keinen dauerhaften Frieden in Europa geben, aber auch «keine fatale Unvermeidlichkeit eines Krieges». Ein massiver Angriff der Nato auf Russland sei «nicht das wahrscheinlichste Szenario». Zwar gebe es kaum noch Angst vor einem Atomkrieg, aber die Europäer schienen «auch nicht selbstmordgefährdet».
«Die Gefahr lauert in den Provokationen des Westens, mit denen die Reaktion Moskaus vor der nächsten Eskalationsrunde getestet werden soll.»
Die USA würden sich die «eher zurückhaltende» Reaktion auf die «immer dreisteren Angriffe auf Russland und seine Bürger» zunutze machen und die Eskalationsspirale weiter aufdrehen. Trenin erinnert in dem Zusammenhang daran, «dass für einige einflussreiche Kräfte in den Vereinigten Staaten ein regionaler Krieg in Europa unter Einsatz von Atomwaffen, der sowohl den Feind (Russland) als auch den Konkurrenten (die EU) schwächt, grundsätzlich akzeptabel ist».
Moskaus Warnungen, ein solcher Krieg würde unweigerlich auch die USA treffen, würden als leere Panikmache empfunden. Deshalb ermutige «eine übermässige Zurückhaltung» Russlands dessen Gegner und könne «zu einem katastrophalen Frontalzusammenstoss führen», warnt Trenin.
Er fordert stattdessen:
«Die Eskalationsspirale des Westens muss durchbrochen werden.»
Der eingeleitete Ausbau der militärischen Kräfte und Strukturen Russlands seien entsprechende Schritte dazu wie auch die zunehmende Zusammenarbeit mit Belarus. Zugleich erinnert Trenin, «dass ein militärisches Gleichgewicht bei den konventionellen Waffen mit dem gesamten Nato-Block eine unmögliche Aufgabe ist und, wie die Erfahrung der Sowjetunion gezeigt hat, für die Wirtschaft katastrophal ist».
Der Politologe fordert stattdessen, die «strategische Abschreckung» zu stärken, das heisst durch Atomwaffen. Das müsse «aktiv und präventiv» geschehen, um katastrophale Entwicklungen zu verhindern:
«Russlands Hauptgegner muss erkennen, dass seine eigenen Werte in Europa bereits gefährdet sind. Die EU-Staaten sollten sich darüber im Klaren sein, was auf sie zukommt, wenn ihr immer stärkeres Engagement im Ukraine-Konflikt zu einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland führt.»
Frieden nur durch Angst
Der Politologe betont, die strategische Abschreckung durch russische Atomwaffen sei notwendig, um einen nuklearen Angriff oder eine massive bewaffnete Invasion auf Russland zu verhindern. Hinzu komme aktuell die «vordringliche Aufgabe» in Europa, «günstige äussere Bedingungen für einen Sieg in der Ukraine zu schaffen».
Die geäusserte Angst der Europäer vor einem russischen Sieg müsse in eine «echte Angst vor den Folgen ihrer Versuche, uns zu behindern», umgewandelt werden. Das soll laut Trenin geschehen, in dem von der Abschreckung zur «wirksamen Einschüchterung» des Gegners übergegangen wird. Er erinnert:
«Glaubwürdige Abschreckung erfordert logischerweise die Entschlossenheit, die Bedrohung in die Tat umzusetzen. Das ist beängstigend. Aber die Erfahrung des Kalten Krieges zeigt, dass der Frieden zwischen Grossmächten, die sich in einem unversöhnlichen Konflikt befinden, nur auf Angst beruhen kann.»
Fehlende Angst könne tödlich sein, warnt der russische Politologe. Er ist heute unter anderem wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Militärische Weltwirtschaft und Strategie der Higher School of Economics (HSE https://www.hse.ru/en/) in Moskau.
Karaganow geht noch weiter
Trenins Beitrag erinnert an die Aussagen des russischen Politologen Sergej Karaganow im Juni 2023. Dieser hatte ebenfalls in der Zeitschrift Profil gefordert, dem Westen mit präventiven Atomschlägen gegen Länder zu drohen, die Kiew direkt unterstützen.
«Der Feind muss wissen, dass wir bereit sind, einen präventiven Vergeltungsschlag für alle seine gegenwärtigen und vergangenen Aggressionen zu führen, um ein Abgleiten in einen globalen thermonuklearen Krieg zu verhindern.»
Der Politologe hatte damit für Aufsehen und Diskussionen gesorgt. Russlands Präsident Putin hatte im Oktober 2023 beim Waldai-Forum auf eine entsprechende Frage Karaganows einen solchen Atomwaffeneinsatz abgelehnt.
In einem Video-Interview im Januar dieses Jahres wiederholte Karaganow seine Aussage, Russland müsse mit Atomwaffen drohen, wenn der Westen weiter in der Ukraine gegen Russland kämpfe. Als mögliche Ziele nannte er Polen, Rumänien und Deutschland. Von dort beziehungsweise über diese Länder läuft nicht nur die grösste Unterstützung für die Ukraine: Deutschland ist die Hauptdrehscheibe für die militärische Unterstützung Kiews durch die USA. Polen und Rumänien gelten als Standorte für die neuen Hyperschallwaffen «Dark Eagle» der USA.
Trenins Beitrag rückt den bisher als moderat geltenden Politologen, der lange Zeit für einen westlichen Thinktank arbeitete, nicht nur in Karaganows Nähe. Er zeigt, wie sich auch in Russland die Debatte in Folge des ununterbrochenen westlichen Konfrontationskurses zuspitzt.
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