In New York ging kürzlich das zweite Treffen der Mitgliedsstaaten des Internationalen Vertrags über das Verbot von Atomwaffen (AVV) zu Ende (Transition News berichtete). Die Teilnehmer warnten vor den Folgen einer erneuten Politik der «nuklearen Abschreckung». Eine solche Politik sei sowohl eine Bedrohung für die menschliche Sicherheit als auch ein Hindernis für Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung.
Das scheint in der Europäischen Union (EU) und vor allem in Deutschland kaum zu interessieren. Der Atomwaffenverbotsvertrag trat 2021 in Kraft und wurde von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifiziert. Stattdessen fordern zunehmend deutsche Politiker, Politologen und auch Journalisten, eigene Atomwaffen für die EU – und für die Bundeswehr.
Darauf macht der aussenpolitische Informationsdienst German Foreign Policy (GFP) in einem am Freitag veröffentlichten Beitrag aufmerksam. «In Deutschland erstarkt die Forderung nach einer atomaren Bewaffnung der EU», heisst es da. Begründet werde das mit einem möglichen erneuten Wahlsieg Donald Trumps in den USA 2024 und der angeblichen «russischen Gefahr».
Zu jenen, die Atomwaffen für die EU und gar die Bundeswehr fordern, gehören laut dem Informationsdienst Journalisten wie Hajo Schumacher, Politikwissenschaftler Herfried Münkler und Ex-Bundesaussenminister Joseph Fischer (Grüne). Schumacher hatte in der ARD-Sendung «Maischberger» am 14. November unter anderem gesagt: «Wir werden uns fragen müssen: Brauchen wir in Deutschland eigene Atomraketen?» Ende November hatte Münkler in einem Interview verlangt: «Europa muss atomare Fähigkeiten aufbauen.»
Der Politologe sagte Presseberichten zufolge: «Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen grossen EU-Ländern wandert.» Ex-Aussenminister Fischer forderte nun vor wenigen Tagen laut Medienberichten, Russland müsse mit europäischen Atomwaffen «abgeschreckt» werden.
Dem GFP-Bericht nach wird diese Debatte unter anderem mit der Sorge vor der Wiederwahl von Trump im nächsten Jahr begründet. Es werde befürchtet, dass sich die USA dann aus ihrer aktiven Rolle in der NATO und aus Europa zurückziehen könnten. Der Konflikt mit China – «notfalls auch militärisch» – könnte für Washington wichtiger sein.
Bei einem möglichen Abzug der US-Truppen und -Atomwaffen müssten die EU-Staaten nicht nur konventionell, sondern auch nuklear aufrüsten, gibt GFP als Argumente wieder. Der Grund sei, dass Europa ohne den US-amerikanischen «Nuklearschirm» schutzlos der russischen «nuklearen Erpressung» (Fischer) ausgeliefert sei.
Der frühere Grünen-Spitzenpolitiker und Ex-Aussenminister Fischer behauptete: «Solange wir einen Nachbarn Russland haben, der der imperialen Ideologie Putins folgt, können wir nicht darauf verzichten, dieses Russland abzuschrecken.» Ähnliches behaupten gegenwärtig Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, der Bundeswehr-Politologe Carlo Masala und Autoren eines Papiers der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Die verbalen Aufrüstungs- und Kriegstreiber – die nicht anders bezeichnet werden können – kümmert dabei auch wenig, dass Analysen und Einschätzungen zufolge kein militärischer Angriff Russlands auf Europa droht. Das hatte selbst Politologe Masala Mitte Oktober in Berlin auf eine entsprechende Frage hin eingestanden.
Keine Rolle spielt dabei anscheinend ebenso, dass Russlands Präsident Putin in den letzten Monaten mehrfach erklärt hat, dass Russland niemanden bedrohe, auch nicht nuklear. So hatte er unter anderem auf dem diesjährigen Waldai-Forum am 5. Oktober dazu erklärt, die entsprechende russische Doktrin sehe den Einsatz von Atomwaffen in zwei Fällen vor: Zum einen als Antwort auf einen Atomschlag gegen Russland, zum anderen dann, wenn die Existenz der Russischen Föderation durch eine konventionelle Aggression gefährdet sei.
Nichts davon zeichne sich aktuell ab, wurde der russische Präsident in einem RT DE-Bericht über das Waldai-Forum zitiert. Zuvor hatte der russische Politologe Segej Karaganow für Aufsehen gesorgt, weil er in einem Beitrag den präventiven Ersteinsatz von Atomwaffen auf Ziele in Europa vorschlug. Solche Forderungen seien äusserst unverantwortlich und gefährlich, hatten daraufhin unter anderem die Mitglieder des russischen Rates für Aussen- und Verteidigungspolitik laut RT DE erklärt.
Dagegen wird laut GFP in der aktuellen US-Nuklearstrategie («Nuclear Posture Review») vom 27. Oktober 2022 betont, ein Verzicht auf einen nuklearen Erstschlag komme für die USA nicht in Frage. Der Informationsdienst verweist in seinem aktuellen Beitrag auch darauf, dass führende französische Politiker erklären, Paris sei bereit, zuerst Atomwaffen einzusetzen. Frankreich ist das einzige EU-Land mit eigener Atomstreitkraft («Force de frappe»).
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