Im Sommer 1940 entdeckte die deutsche Wehrmacht in der französischen Stadt La Charité-sur-Loire einen Zug, der wegen beschädigter Gleise angehalten worden war. Dieser Zug enthielt rund 3.000 Dokumente aus dem französischen Hauptquartier, darunter ein besonders heikles: eine geheime Vereinbarung zwischen hohen französischen und schweizerischen Offizieren.
Diese Vereinbarung regelte detailliert, wie Frankreich der Schweiz militärische Unterstützung im Falle eines Angriffs durch die Wehrmacht zukommen lassen würde. Aus Sicht der Nazi-Führung stellte dies eine klare Verletzung der schweizerischen Neutralität dar. Die deutschen Behörden hielten diesen Fund geheim, um ihn gegebenenfalls als Druckmittel gegen die Schweiz einsetzen zu können.
In der Schweiz waren nur etwa zehn Personen über die Existenz dieser heiklen Vereinbarung informiert, und es wird vermutet, dass selbst der Bundesrat, also die Landesregierung, nichts davon wusste. Die Vereinbarung wurde von hohen Offizieren beider Länder ausgehandelt. Auf Befehl des Oberbefehlshabers der Schweizer Armee, General Henri Guisan, wurden 1940 sämtliche Dokumente zu dieser Vereinbarung in der Schweiz vernichtet, einschließlich strategischer Pläne und Namenslisten von Funktionsträgern. Informationen über dieses Abkommen gelangten erst Mitte der 1960er Jahre durch Medienberichte an die Öffentlichkeit.
Die geheime Vereinbarung war neutralitätsrechtlich wohl gerade noch korrekt, politisch jedoch äußerst brisant. Die Schweiz, umgeben von faschistischen Mächten, sah sich einem möglichen Angriff durch die Truppen von Mussolini und Hitler ausgesetzt und versuchte, sich darauf vorzubereiten. Die Vereinbarung mit Frankreich sah vor, dass Frankreich die Schweiz nur auf deren ausdrücklichen Wunsch hin militärisch unterstützen würde.
Diese Abmachung hätte Deutschland als Erpressungsmittel dienen können, was, soweit bekannt, nie geschah. Hätte man in der Schweiz während des Krieges von diesem Geheimabkommen erfahren, hätte es erhebliche Unruhe ausgelöst und möglicherweise zur Absetzung von General Guisan geführt.
Es kam dann anders. Die Akten fielen den Deutschen in die Hände – was Guisan wusste. Und Frankreich kapitulierte. Es musste eine neue Strategie her, die Strategie des Réduits, die Guisan umsetzte. Sie sah vor, dass die Schweiz bei einem Angriff sämtliche Alpenübergänge und Tunnel unbenutzbar machen würde. Die Sprengladungen waren angebracht. Außerdem wurden im Geheimen die Rheinbrücken mit Sprengladungen versehen, um den Gegner aufzuhalten. An den Rheinbrücken wurde diese Sprengladungen erst in den 90er Jahren entfernt. Deutschland erfuhr davon erst nach deren Entfernung.
Die Strategie sah weiter vor, die militärischen Kräfte im Alpenraum zu konzentrieren und dem Gegner von dort aus Verluste zuzufügen. Diese Strategie war dem deutschen Generalstab klar – der möglichst ungehinderte Zugverkehr durch die Alpen mit bis zu 100 Transitzügen pro Tag war aber zu wichtig.
Nun steht die Schweiz wiederum vor einer sicherheitspolitischen Debatte. Anstoß ist ein noch unveröffentlichter Bericht einer Studienkommission, der vom Verteidigungsdepartement (VBS) unter Leitung von Bundespräsidentin Viola Amherd in Auftrag gegeben wurde, wie der Blick vorab schreibt. Der Bericht empfiehlt eine engere Zusammenarbeit mit der EU und der NATO sowie eine Anpassung der schweizerischen Neutralitätspolitik, was zu erwartendem Widerstand der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der größten Partei der Schweiz, und einigen linken Kreisen führen dürfte.
Der Krieg um die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa verändert. Während viele europäische Länder sich durch die NATO oder die EU als verteidigungspolitisch abgesichert betrachten, verzichtet die Schweiz darauf. Die NATO hat der Studienkommission jedoch mitgeteilt, dass die Schweiz keine Sicherheitslücke bilden dürfe, insbesondere nicht in kritischen Bereichen wie Energie- und Zahlungsverkehr.
Hauptinhalte des Berichts:
- Atomwaffenverbotsvertrag: Die NATO möchte, dass die Schweiz den Atomwaffenverbotsvertrag nicht unterzeichnet, um die nukleare Abschreckung aufrechtzuerhalten. Dies steht im Widerspruch zur humanitären Tradition der Schweiz, jedoch wird argumentiert, dass die Schweiz vom Nuklearschirm der NATO profitiere.
- Engere Zusammenarbeit mit der NATO: Der Bericht präsentiert die NATO als sicherheitspolitische Garantin Europas. Die Autoren sind der Meinung, dass eine engere Kooperation die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz stärken könnte, insbesondere in Bereichen wie Cyber-Sicherheit und hybride Kriegsführung. Ein NATO-Beitritt wird jedoch nicht empfohlen, obwohl in gewissen politischen Kreisen wie im Umfeld von Verteidigungsministerin Amherd Sympathien dafür bestehen. Das ist wohl mehr der Tatsache geschuldet, dass derjenige, der in der Schweiz unbedingt politischen Selbstmord begehen will, nur einen NATO-Beitritt anzuregen braucht. Das weiß die schlaue Walliserin sehr gut.
- Geheimabsprachen mit der NATO: Im Falle eines Angriffs auf ein NATO-Mitglied könnte die Schweiz geheime Absprachen treffen, um das Verhalten in solchen Szenarien zu klären. Je nach Inhalt wären diese mit dem Neutralitätsrecht vereinbar oder eben nicht. Dies erinnert an die oben erwähnten historische Geheimverträge, die im Zweiten Weltkrieg getroffen wurden. Allerdings zeigt die Geschichte, dass auch Geheimes manchmal bekannt wird. Nur weil es damals noch einmal gut ausging, heisst das nicht, dass es immer gut ausgehen wird. Neutralität ist auch immer eine Frage der Wahrnehmung. Wird ein neutrales Land nicht mehr als solches wahrgenommen, dann ist das eine politische Hypothek.
- Gemeinsame Übungen mit der NATO: Die Studienkommission hält gemeinsame militärische Übungen für entscheidend, um die Verteidigungsbereitschaft der Schweiz zu stärken. Diese Übungen sind jedoch umstritten. Sie verstoßen an sich nicht gegen Neutralitätsrecht, aber genau wie allfällige Geheimverträge können sie einer Neutralitätspolitik zuwiderlaufen.
- Kooperation mit der EU: Es wird eine stärkere Kooperation mit der EU empfohlen, darunter auch eine Beteiligung an EU-Missionen und eine Anpassung der rechtlichen Grundlagen, um Militärangehörige zu Wiederholungskursen im Ausland zu verpflichten. Auch hier kommt es darauf an, welcher Natur diese Missionen sind. Allerdings dürfte es ein rotes Tuch und nicht durchsetzbar sein, Militärangehörige zu Truppenübungen im Ausland politisch zu verpflichten. Im Moment sucht die Schweizer Armee für eine Übung auf dem großen Truppenübungsplatz Allentsteig im ebenfalls neutralen Österreich Freiwillige. Solche Übungen auf freiwilliger Basis werden von Zeit zu Zeit durchgeführt und sind nichts Neues.
- Kriegsmaterialgesetz: Das aktuelle Gesetz verbietet die direkte Lieferung von Schweizer Kriegsmaterial in Konfliktgebiete wie die Ukraine. Dies sorgt für Unverständnis bei der NATO und der EU, da die Schweiz als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer betrachtet wird. Es wird vorgeschlagen, das Gesetz zu überarbeiten, um mehr Flexibilität zu ermöglichen. Auch das dürfte politisch hoch umstritten sein und insbesondere die SVP auf den Plan rufen.
- Anpassung der Neutralitätspolitik: Es wird empfohlen, die Neutralitätspolitik gegenüber dem Neutralitätsrecht stärker zu gewichten, um der Schweiz mehr Handlungsspielraum in internationalen Konflikten zu geben. Diese Diskussion wurde 2022 abgebrochen, sollte aber laut der Studienkommission rasch wieder aufgenommen werden.
Wir haben eine Artikelserie über die Schweizer Neutralität gestartet (siehe hier, hier und hier). Der letztgenannte Artikel enthält nach dem Zwischentitel eine geraffte Zusammenfassung zum Thema schweizerische Neutralität.
Wir werden diese Serie fortführen, da das Thema letztlich wohl in den nächsten Jahren an der Urne entschieden wird und zwar im Rahmen der Neutralitätsinitiative (wir haben hier darüber berichtet).
Diese Initiative verlangt, dass
- die Schweizer Neutralität erhalten bleibt,
- die Schweizer Neutralität immerwährend und ausnahmslos gelten soll,
- die Schweiz trotz ihrer Neutralität bewaffnet sein muss,
- die Schweiz keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis beitreten darf (einzige Ausnahme: ein direkter militärischer Angriff auf die Schweiz),
- die Schweiz sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten beteiligt,
- die Schweiz auf Sanktionen gegen kriegführende Staaten verzichtet,
- die Schweiz ihren Verpflichtungen gegenüber der UNO weiterhin nachkommt,
- die Schweiz verhindert, dass andere Staaten Sanktionen via Schweiz umgehen («courant normal»),
- die Schweiz ihre immerwährende Neutralität für «gute Dienste», also zur Verhinderung und Lösung von Konflikten, nutzt und
- die Schweiz von allen Ländern dieser Welt als standhaft und verlässlich neutrales Land respektiert werden will.
Je stärker der Druck aus dem Ausland und je näher das (noch nicht feststehende) Abstimmungsdatum rückt, desto aktueller wird das Thema. Fortsetzung folgt.
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