Neutralitätspolitik braucht einen Kompass.
Professor Wolf Linder, Schweizer Politologe
Liebe Leserinnen und Leser
Die gegenwärtige Handhabung der Schweizer Neutralität provoziert Widerspruch. Das ist nicht neu. Bei jedem großen weltpolitischen Konflikt geraten neutrale Länder unter Beschuss. Der einen Seite sind sie nicht neutral genug, der anderen Seite sind sie zu neutral. Unausgesprochen schwingt immer der Vorwurf mit, nicht solidarisch zu sein.
Jüngst hat die Diskussion im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine an Schärfe gewonnen. Der Druck auf die Schweiz ist immens, bei den Sanktionen gegen Russland mitzumachen und zum Beispiel indirekte Waffenlieferungen zu ermöglichen. (wir haben hier und hier darüber berichtet).
Mutatis mutandis hat man der Schweiz im Zweiten Weltkrieg die gleichen Vorwürfe gemacht. Die Achsenmächte warfen ihr vor, nicht neutral zu sein, weil die Presse gegen die Nazis anschrieb und die Bevölkerung dieser Ideologie großmehrheitlich fernstand.
Solches berichtete damals der deutsche Gesandte Ernst von Weizsäcker – der Vater des späteren westdeutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der in den 1930er Jahren in Bern ins Gymnasium ging – nach Berlin. Dazu kommt, dass der Schweizer Armeechef, General Henri Guisan, mit Frankreich Absprachen für den Fall eines Angriffs auf die Schweiz getroffen hatte und die entsprechenden Akten den Deutschen in die Hände fielen.
Die Westmächte hingegen warfen der Schweiz vor, unsolidarisch zu sein und sich nicht an der gemeinsamen Niederringung der Nazis zu beteiligen und sich daran zu bereichern. Dank geschicktem Verhandeln gelang es Diplomaten vom Schlage eines Walter Stucki und Paul Jolles, mit dem Washingtoner Abkommen 1946 die Isolation zu durchbrechen.
Ich will diese Zeit und diese Politik nicht idealisieren. Sie brachte viele Kompromisse mit sich, die aus heutiger Sicht manchmal fragwürdig erscheinen. Sicher hätte man hier oder dort etwas mutig sein können. Aber wer wusste das damals? Ist das Konzept der Neutralität deshalb falsch? Oder sollte sie auf ihren rechtlichen Kern zurückgefahren werden?
Immerhin: Einen NATO-Beitritt fordern (bisher!) nicht einmal eingefleischte Atlantiker. Auffällig: Heute hört man praktisch die gleichen Argumente gegen die Neutralität oder für deren Relativierung.
Neulich hat sich der emeritierte Berner Politologieprofessor Wolf Linder geäußert. Er argumentiert, dass die Schweiz eine Neutralitätspolitik benötigt, die sich eng an den Rechtsgrundsätzen der Charta der Vereinten Nationen orientiert, und sie nicht eine aktivistische Außenpolitik verfolgen sollte.
Er beschreibt, wie die Neutralitätspolitik der Schweiz historisch auf die Nachbarländer ausgerichtet war und später während des Kalten Krieges eine klare ideelle Zugehörigkeit zur westlichen Welt hatte. Heutzutage, so Linder, müsse die Neutralität universell sein und auch gegenüber Ländern wie China und Indien gelten, um glaubwürdig zu bleiben.
Linder kritisiert die aktuellen Diskussionen über Neutralität als verwirrend und inkohärent, und sie sei gekennzeichnet von widersprüchlichen Ansichten. Er betont, dass glaubwürdige Neutralitätspolitik eine sorgfältige und konsistente Herangehensweise erfordere, die universelle Prinzipien des Völkerrechts berücksichtigt.
Dies bedeutet, dass die Schweiz nur Sanktionen unterstützen sollte, die von einer Mehrheit der internationalen Gemeinschaft legitimiert sind, wie jene des UNO-Sicherheitsrats.
Er schlägt vor, dass die Schweiz eigene Sanktionen beschließen könnte, um ihre Neutralitätspolitik zu wahren, anstatt den Sanktionen der EU oder einzelner Länder zu folgen. Dies würde mehr Eigenverantwortung und Transparenz in der schweizerischen Außenpolitik schaffen. Aus seiner Sicht sei es wichtig, dass eine glaubwürdige Neutralitätspolitik eine klare, konsistente Stimme erfordere, die sich auf die Einhaltung des Völkerrechts konzentriert.
Abschließend plädiert Linder für eine Neutralitätspolitik, die keinen Aktivismus erfordert. Er sieht darin die Möglichkeit, dass die Schweiz wieder als glaubwürdige Vermittlerin agiert und Anerkennung und Vertrauen gewinnt.
Was Linder sagt – etwas ausführlicher hier – ist eine kaum verhüllte Unterstützung der Neutralitätsinitiative. Die Unterschriftensammlung dazu ist abgeschlossen und die Vorlage muss nun Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet werden (das Datum der Abstimmung ist noch nicht bekannt).
Unter dem Druck von EU und NATO haben die Schweizer Aussenpolitiker etwas den Kompass verloren. Die Bevölkerung hat demnächst die Möglichkeit, dies zu korrigieren. Wir werden wieder darüber berichten, sobald es so weit ist. Bleiben Sie uns in der Zwischenzeit gewogen!
Herzlich
Daniel Funk
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