Kernaussagen aus einem Interview aus «Zeitgeschehen im Fokus»
An sich gibt es zur Bekämpfung des Virus keinen Grund, ein Ermächtigungsgesetz zu erlassen, denn das Epidemien-Gesetz gibt dem Bundesrat umfassende Kompetenzen. …
Das vorgeschlagene Gesetz hat den an sich vernünftigen Zweck, sozusagen als Überleitungsgesetz zu dienen, um jene vor allem finanziellen und anderen Massnahmen auf längere Zeit rechtlich abzusichern, die man in den ersten drei Monaten der Pandemie unter der Herrschaft eines unklaren «Notrechts» getroffen hat.
Die Anwendung von «Notrecht», d. h., die Verletzung des ordentlichen Rechts wirkt wie ein Suchtmittel für Regierungen. Die Regierungen kommen davon fast nicht mehr weg, weil es scheinbar viel einfacher ist, mit Vollmachten zu regieren als mit bloss demokratischer Legitimation.
Absatz 2 [von Art 1] ist merkwürdig. Er kündigt einen verhältnismässigen Gebrauch der Kompetenzen an. Das ist unüblich. Die Gesetze brauchen keine derartige Klausel, weil schon die Bundesverfassung (BV) in Art. 5 Abs. 2 ganz generell bestimmt, dass das staatliche Handeln im öffentlichen Interesse liegen muss und verhältnismässig sein muss. …
Das geschieht deshalb, weil die dem Bundesrat zugesprochenen Kompetenzen aussergewöhnlich sind und der Bundesrat mit seinem Gesetzesentwurf sozusagen eine Beruhigungstablette mitliefert. Sie ist rechtlich bedeutungslos. Über diesen Umweg gibt der Bundesrat zu, dass das Gesetz ganz ungewöhnlich ist.
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Tatsächlich gibt das Epidemiengesetz eine schon bedeutende Handhabe, um das Virus zu bekämpfen. All das ist durch die Art. 6 «Besondere Lage» und 7 «Ausserordentliche Lage» EpG schon abgedeckt. Es scheint, dass der Gesetzesentwurf die ausserordentliche Lage generell einführt. Diese Verdoppelung der Rechtsgrundlagen ist schädlich und stiftet Verwirrung. Das Parlament sollte davon absehen.
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Der Einbezug der Kantone, in Art. 2 des Entwurfs erwähnt, spricht eine Selbstverständlichkeit aus, die bereits gemäss Art. 147 BV gilt. Die Tatsache dieser unnötigen Wiederholung unterstreicht wiederum den sehr weitgehenden Charakter des Gesetzes. Auch hier wird eine Beruhigungstablette verabreicht.
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Die Zulassungspflicht ist in Art. 8 ff. des Heilmittelgesetzes geregelt. Soll von diesem Verfahren Abstand genommen werden, um etwa Heilmittel beschleunigt in den Markt zu bringen, so geht das nur, wenn die gesetzlichen Vorschriften geändert werden. Dafür ist die Bundesversammlung zuständig. In der Sache wird hier der Regierung die Kompetenz zugewiesen, mittels blosser Verordnung die gesetzliche Regelung abzuändern. Das geht zu weit. Sind derartige Massnahmen nötig, so muss das die Bundesversammlung beschliessen.
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Die Bundesverfassung erlaubt es nicht, dass der Bundesrat Gesetzesmaterien, die dem Parlament zustehen, selber reguliert.
Der Gesetzesentwurf erlaubt es, dass der Bundesrat durch Verordnung andere Bundesgesetze abändert. Er kann damit also in Regelungsbereiche eingreifen, die man früher als bundesgesetzwürdig angesehen hat. …
Der Gesetzesentwurf steht also über anderen Bundesgesetzen und ermächtigt den Bundesrat zur Rechtssetzung in Materien, die nach Art. 164 BV eigentlich der Bundesversammlung vorbehalten sind. Das wäre nur mit einer Verfassungsänderung formell zulässig. Und diese Verfassungsrevision wird allen deutlich machen, dass die Schweiz einen grossen Schritt Richtung Exekutivstaat unternimmt.
Das sind wichtige Fragen, die in jedem Fall der Gesetzgeber gemäss Art. 164 BV selber regeln muss. Es ist in jedem Fall unzulässig, eine sogenannte «Blankettdelegation» vorzunehmen. … Bei der Blankettdelegation gibt der Gesetzgeber – also die Bundesversammlung – ganze Rechtsgebiete an die Regierung weiter, ohne dass er Richtlinien aufstellt, wie sie diese Gebiete in etwa regeln soll.
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Das heisst, das Gesetz müsste in der Form des Art. 165 Abs. 3 BV beschlossen werden, weil es die Verfassung abändert und in ihr zum Teil keine genügende Grundlage hat. Art. 165 Abs. 3 BV verlangt ein obligatorisches Referendum von Volk und Ständen. Aber auch wenn man das so machen würde, wäre es enorm fragwürdig: Man würde auf quasi legalem Weg der Regierung übermässige Kompetenzen zuschieben. Die Bundesversammlung sollte so etwas nicht beschliessen, weil sie sich selber aus dem (politischen) Verkehr zieht, soweit das Corona-Virus betroffen ist.
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Ich würde der Bundesversammlung Nichteintreten raten. Damit gibt sie dem Bundesrat die Gelegenheit, die Vorlage zu verbessern. Die neue Vorlage darf sicher nicht Blankettdelegationen enthalten, sondern die wichtigen Normen muss die Bundesversammlung selbst beschliessen, wie das Art. 164 BV vorsieht.
Ganzes Interview: «Es gibt zur Bekämpfung des Corona-Virus keinen Grund, ein Ermächtigungsgesetz zu erlassen». Interview mit dem Staatsrechtler Prof. Dr. Andreas Kley von Thomas Kaiser, Zeitgeschehen im Fokus, Ausgabe 13.