Seit dem Sturz der Regierung von Bashar al-Assad im Dezember 2024 und der Machtübernahme durch Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ist in Syrien ein äußerst beunruhigender Anstieg der Entführungen junger Frauen zu verzeichnen. Sie kommen insbesondere aus der alawitischen Gemeinschaft, zu der auch Assad gehört.
The Cradle teilt mit, dass diese Entführungen Berichten zufolge von bewaffneten Gruppen durchgeführt werden, die mit der neuen, von HTS geführten Regierung verbunden sind. Viele der Frauen würden nach Idlib, der HTS-Hochburg, gebracht, wo sie gezwungen würden, als Sexsklaven tätig zu sein.
Das Muster dieser Verbrechen ähnelt laut irakischen Medien in erschreckender Weise dem Völkermord der ISIS an den Jesiden im irakischen Sinjar im Jahr 2014. Damals wurden Tausende von Frauen entführt, verschleppt und sexueller Gewalt ausgesetzt. Nun scheint in Syrien eine ähnliche Kampagne im Gange zu sein, die sich unter dem Deckmantel der so genannten Befreiung des Landes gegen Frauen aus Minderheitengemeinschaften richtet.
Die syrische Aktivistin Hiba Ezzedeen, die von ihrer persönlichen Begegnung mit einer der entführten Frauen in Idlib berichtete, versuchte, mit einem Facebook-Post auf die Situation aufmerksam zu machen. Sie beschrieb, dass sie bei einer Frau, die kürzlich von einem bekannten Mann in ihr Dorf gebracht wurde, Anzeichen von Gefangenschaft erkennen konnte. Nachdem sie Personen in ihrem Netzwerk befragt hatte – Rebellen, Splittergruppen und Menschenrechtsaktivisten – fand sie heraus, dass diese Entführungen tatsächlich weit verbreitet sind. Mehrere bewaffnete Gruppen, darunter auch ausländische Kämpfer, seien involviert.
Ihre Enthüllungen führten zu einem Haftbefehl gegen sie wegen «Beleidigung» des Schleiers. Diese Reaktion sieht The Cradle als ein Beispiel für das repressive Umfeld, das derzeit unter der HTS herrscht, wo Opfer zum Schweigen gebracht und Informanten kriminalisiert würden.
Die Liste der vermissten Frauen wird immer länger. Zu den Fällen gehören Karolis Nahla, eine drusische Universitätsstudentin, die ohne Lösegeldforderungen verschwand, Bushra Mufarraj, eine in Jableh entführte Mutter, und mehrere andere, die in den Küsten- und Stadtgebieten Syriens verschwunden sind. Während einige von ihnen unter fragwürdigen Umständen zurückgebracht wurden – wie die 17-jährige Sima Suleiman Hasno, die später ihrer Familie übergeben wurde –, bleiben andere spurlos verschwunden. Augenzeugen und Überlebende haben The Cradle zufolge über Folter und Gefangenschaft berichtet.
Diese sich zuspitzende Krise hat Vergleiche mit den Gräueltaten der ISIS aufgeworfen. Die HTS hat zwar einen neuen Namen und ist politisch auf dem Vormarsch, ist aber ideologisch in denselben extremistischen Überzeugungen verwurzelt. Die als Ableger von al-Qaida gegründete HTS firmierte früher unter dem Namen Jabhat al-Nusra (al-Nusra-Front), und viele ihrer derzeitigen Anführer haben direkte Verbindungen zum ISIS-Netzwerk. Die Kontinuität zeigt sich offenbar nicht nur in der Ideologie, sondern auch in der Praxis, wie in der systematischen Versklavung von Frauen, die einer Minderheit angehören.
Als der al-Nusra-Chef Abu Bakr al-Baghdadi 2019 getötet wurde, hatte er sich in Barisha versteckt, etwas außerhalb des von der HTS kontrollierten Sarmada. Der Guardian bestätigte, dass sich zu dieser Zeit auch zahlreiche versklavte Jesiden in Idlib befanden. Die Zeitung zitierte Abdullah Shrem, einen jesidischen Retter, und Alexander Hug von der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP), die sagten, dass vermisste Personen oft «in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung» festgehalten würden.
2019 erzählte Ali Hussein, ein Yezide aus Dohuk, der NPR-Journalistin Jane Arraf von seinem Versuch, ein 11-jähriges yezidisches Mädchen freizukaufen, das von ISIS entführt, aber «an einen Emir eines Al-Qaida-Ablegers in Syrien – Nusra-Front – verkauft wurde» und dass sie «keine Jungfrau mehr ist».
Reuters berichtete über die Rettung des jesidischen Jungen Rojin, der 2014 zusammen mit seinem Bruder von ISIS gefangen genommen und versklavt worden war. Im Alter von 13 Jahren sei Rojin in das von Kurden betriebene Lager Al-Hol im Osten Syriens gebracht worden. Dort sei er zusammen mit Tausenden von ISIS-Familien und -Anhängern nach der endgültigen Niederlage der Organisation in der syrischen Grenzstadt Baghouz im Jahr 2019 festgehalten worden.
Regionale Medien bestätigen, dass die von der HTS kontrollierten Gebiete nach wie vor Drehscheiben für den Menschenhandel sind, wobei mehrere gerettete Jesiden ihre Gefangenschaft nach Idlib zurückverfolgen.
Gemäß The Cradle sind die Entführungen alawitischer Frauen – ein Spiegelbild der jesidischen Tragödie – ein Zeichen dafür, dass HTS-Chef Ahmad al-Sharaa das ISIS-Modell neu verpackt hat. Das Portal kommentiert:
«Unter dem Deckmantel der Befreiung wurde ein brutales System von sektiererischer Gewalt, Versklavung und Vergewaltigung auf die Menschen losgelassen, die nun unter seiner Herrschaft stehen.»
Als Reaktion auf die zunehmende Leugnung warnte der US-amerikanische Völkermordexperte Matthew Barber vor dem gleichen Muster wie in den ersten Tagen des Völkermords an den Jesiden: Unglauben, Ablehnung und Spott – bis sich die Wahrheit als viel schlimmer herausstellte. Barber:
«Niemand hat geglaubt, dass das wirklich passiert. (…) Selbst westliche Analysten und Journalisten haben unseren Behauptungen nicht geglaubt. Die Realität war sogar noch schlimmer als das, was wir behauptet haben.»
Das Schweigen der Opfer sei nicht freiwillig, sondern erzwungen, schließt The Cradle. Und während diese Kampagne des «geschlechtsspezifischen Terrors» weitergehe, stelle sich die Frage: Wie lange wird die Welt ihren Blick abwenden?
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