Nachdem Syrien unter Präsident Bashar al-Assad jahrelang in einem der von außen befeuerten blutigsten Konflikte der Neuzeit standhielt, ist das politische System des Landes am Sonntag (8. Dezember) innerhalb weniger Tage kollabiert. Der Vormarsch der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) und der von der Türkei unterstützten «Syrischen Nationalen Armee» (SNA) hat seit dem 27. November ausgehend von der von ihnen kontrollierten Provinz Idlib dafür gesorgt.
Die von HTS-Chef al-Dscholani angeführten Islamisten und die anderen Kräfte haben Syrien aber nicht «erobert» oder das «Assad-Regime gestürzt», wie es in den etablierten Medien allgemein heißt. Die Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld stellte dazu in einem Bericht klar:
«Tatsächlich wurde Damaskus nicht ‹erobert›, sondern die Bewohner der syrischen Hauptstadt haben die Kampfverbände hereingelassen. Armee und Polizei waren angehalten, keinen Widerstand zu leisten und sich zurückzuziehen, die Bevölkerung der Stadt war schon seit dem Vortag zu Hause geblieben, um abzuwarten.»
Assad habe nach Gesprächen mit anderen Staaten den Rückzug der Streitkräfte, von Armee und Polizei angeordnet sowie für sich und seine Familienangehörige den Weg ins Exil gewählt. Leukefeld weist daraufhin, dass die Kämpfer der HTS und der mit ihr verbündeten Gruppen von der Türkei und von arabischen Golfstaaten sowie von den USA, Großbritannien und Israel unterstützt wurden. Das sei bereits seit Beginn des Krieges in Syrien 2011 geschehen, wozu auch die Unterstützung durch die deutsche Bundeswehr zählt.
Die Nahost-Korrespondentin Leukefeld erinnert in ihrem jüngsten Beitrag an das CIA-Programm «Timber Sycamore». Damit seien die bewaffneten Aufständischen ab 2012 nicht nur bewaffnet, sondern auch ausgebildet worden.
Das CIA-Programm sei vom damaligen US-Präsident Barack Obama genehmigt und vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6, dem MIT, dem türkischen Militärgeheimdienst und von Geheimdiensten der arabischen Golfstaaten unterstützt worden. Letztere seien vor allem auch für die Finanzierung zuständig gewesen. Laut New York Times wurden eine Milliarde Dollar dafür ausgegeben, bis das Programm durch Präsident Donald Trump 2017 beendet worden sein soll.
Syrien konnte dem Krieg mit allen offenen und verdeckten Mitteln viele Jahre standhalten, dank der Unterstützung aus Russland, dem Iran und anderen Kräften wie der libanesischen Hisbollah. Am Ende waren der Krieg des Westens und seine Sanktionen gegen das souveräne Syrien doch erfolgreich, weil sie den syrischen Staat auszehrten und das Leben der Bevölkerung so belasteten, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung massiv anwuchs. Auch darauf macht die Nahost-Korrespondentin Leukefeld aufmerksam.
Der brasilianische Journalist Pebe Escobar schreibt in einer Analyse der Ereignisse von Fehlern Assads, der auch Hilfe aus dem Iran und Russland abgelehnt habe, und von einem «ferngesteuerten Putsch westlicher Geheimdienste (…), der sich blitzschnell entwickelte, komplett mit Berichten über Verrat im Inland». Er zeichnet die Vorgänge im Hintergrund anhand inoffizieller Informationen nach und stellt fest, dass das «Great Game» um den Nahen Osten wiederbelebt wird.
Inzwischen bombardieren die US-Truppen Stellungen des Islamischen Staates (IS) auf syrischem Territorium, während der amtierende US-Präsident Joseph Biden mitteilen ließ, dass das US-Militär, das sich illegal in Syrien befindet, auch weiterhin dort bleiben werde. Mit Israel nutzt ein weiterer Unterstützer und Förderer der Anti-Assad-Kräfte den Zusammenbruch in Syrien aus.
Die israelische Armee IDF ist in das Nachbarland einmarschiert, bombardiert Berichten zufolge Hunderte Ziele, vor allem die militärische Infrastruktur des Landes, und steht demnach mit Panzern kurz vor Damaskus.
Die Angriffe zeigen laut Süddeutscher Zeitung, dass Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu «Ernst macht mit der Neugestaltung der Region» nach israelischen Vorstellungen. «Ich verändere das Gesicht des Nahen Ostens, so wie ich es versprochen habe», sagte er und drohte demnach erneut dem Iran als Hauptziel des Vorgehens.
Die Türkei beteiligt sich ebenfalls an der fortgesetzten Schwächung Syriens, indem sie mit Hilfe der von ihr unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) wieder offen militärisch gegen die Kurden im Nordosten vorgeht, nachdem sie bereits seit Jahren dort selbst Gebiete besetzt hält. Hier deutet sich ein weiterer Konflikt an, denn die Kurden in Syrien werden seit langem von den USA unterstützt. Nun hat auch Israel angekündigt, die Kurden offen unterstützen zu wollen, wie die Frankfurter Rundschau berichtet.
In einer umfangreichen Analyse sieht der russische Blogger «simplicius76» die Türkei als Hauptsieger des Umsturzes in Syrien. Ankara verfolge das langfristige Ziel, die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen osmanischen Gebiete wieder herzustellen, «zu denen nicht nur ganz Syrien, sondern auch Palästina gehört».
Doch auch in Tel Aviv träumen Rechtsradikale wie Finanzminister Bezalel Smotrich schon seit längerem von «Groß-Israel», einer Ausdehnung des Staates über den gesamten Nahen Osten. «Es steht geschrieben, dass die Zukunft Jerusalems darin besteht, sich bis nach Damaskus auszudehnen», sagte er in der im Oktober vom Sender Arte gezeigten Dokumentation «Israel – Extremisten an der Macht».
Zu den Verlierern des Umbruchs in Syrien zählen Experten und Beobachter vor allem Russland und den Iran. «Der Sturz des Baath-Staates in Syrien ist eine schwere Niederlage für Russland (und eine Katastrophe für den Iran)», schreibt zum Beispiel der Politikwissenschaftler Anatol Lieven vom Quincy-Institute in Washington (USA). So sei die Hoffnung Moskaus, mit Syrien einen Partnerstaat zu erhalten, endgültig gescheitert. Bisher seien die russischen Stützpunkte in Tartus (Marine) und Khmeimim (Luftstreitkräfte) sicher, aber ihre Zukunft ungewiss.
Auch Lieven sieht die Türkei als größten Profiteur der Vorgänge in Syrien. Escobar schreibt über einen weiteren Aspekt:
«Der Zusammenbruch Syriens könnte ein klassischer Fall von ‹Überdehnung Russlands› [‹extending Russia›] sein – und auch des Iran, wenn es um die äußerst wichtige Landbrücke geht, die ihn mit seinen Verbündeten im Mittelmeerraum (den libanesischen und palästinensischen Widerstandsbewegungen) verbindet.»
Der erwähnte Blogger «Simplicius76» verweist darauf, dass Russland nun aber militärische Kräfte frei bekommen dürfte, die es in der Ukraine einsetzen könne. Er zitierte den jüdisch-arabischen Autor Alon Mizrahi, der in einem Text fragt: «Haben Russland (und der Iran) gerade den westlichen Kolonialismus auf großartige Weise überlistet?». Mizrahi stellt fest:
«Der Iran und Russland haben dabei keinen einzigen Soldaten oder lebenswichtige Vermögenswerte verloren. Sie sind in voller Bereitschaft. Und jetzt muss der Westen Syrien in den Griff bekommen, der Welt erklären, was er dort tut, und für den Wiederaufbau bezahlen. Klingt das nach einem schlechten Geschäft?»
«Syrien droht, ein ähnliches Schicksal wie Libyen zu erleiden, sprich Milizenherrschaft und die Spaltung des Landes», stellt die Autorin Angela Gutsche fest. Auch andere Beobachter und Autoren sehen die Zukunft des Landes ungewiss, auch wenn HTS-Anführer al-Dscholani verspricht, Syrien werde keinen weiteren Krieg erleben. Escobar erwartet dagegen «Machtkämpfe und interne Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Milizen und der Zivilgesellschaft, die jeweils von verschiedenen regionalen und ausländischen Akteuren unterstützt werden, die ein Stück vom Kuchen abhaben wollen».
Politologe Lieven verweist auf den «bei weitem klügsten Ansatz der Chinesen», die einen Großteil ihrer Energie aus dem Nahen Osten importieren, sich aber entschlossen jeder Einmischung und Parteinahme in den Konflikten der Region enthalten würden. Er zitiert einen chinesischen Diplomaten, der ihm vor vielen Jahren gesagt habe: «Warum sollten wir uns in diesen Schlamassel einmischen wollen?»
«Die Geier fressen den Kadaver Syriens»
Syrien: Extremistische Gruppen verüben Racheakte und sektiererische Morde
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