Hier finden Sie Teil 1 des Interviews.
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Transition News: Sie haben im Buch über die erste Reise Fronterlebnisse wiedergegeben, auch ein Gespräch mit einem US-Amerikaner, der in Bahmut im Einsatz war und erzählt hat, dass es da für einen Kämpfer eine Überlebensfrist von nur vier Stunden gab. Der Schweizer Militärexperte Jacques Baud schreibt, die russischen Truppen würden so langsam vorgehen, weil sie versuchen, Verluste zu verringern. Ist das bei dem, was Sie gesehen und gehört haben, irgendwie spürbar gewesen? Gibt es da tatsächlich ein anderes Vorgehen? Oder stimmt das, was noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges erzählt wird: Die Russen schicken einfach alle vor und durch die Masse wird gewonnen?
Patrik Baab: Das ist unterschiedlich. Es kommt auf den Frontabschnitt an und auf die Kriegsphase. In der ersten Phase des Krieges haben die Russen schwere Fehler gemacht, weil sie gedacht haben, wenn sie von Norden in linearer Formation auf Kiew zu marschieren, werden sie mit offenen Armen empfangen. Hier sind sie offensichtlich schlechten Informanten auf den Leim gegangen, die viel Geld dafür bekommen haben. Das haben Tausende von Soldaten mit ihrem Leben bezahlt. In Bachmut, im Umfeld von Pokrowsk oder in Wuhledar war klar, dass diese Städte nur im Häuserkampf erobert werden können. Das regierungskritische Portal Mediazona beziffert die Verluste in Bahmut allein bei den «Wagner»-Söldnern auf russischer Seite mit knapp 20.000 Mann. Insoweit stimmt es schon, was dieser US-amerikanische Söldner gesagt hat: Durchschnittliche Überlebenszeit vier Stunden im Häuserkampf. Da fliegen die Handgranaten um die Ecke, da schaut man nicht erst rein, wen man da trifft. Das ist auch bei Wuhledar so geschehen. Die Stadt ist völlig zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Da gab es auch schwere Verluste auf russischer Seite.
Insgesamt versucht die russische Armee aber durch ein langsames Vorgehen die Verluste zu verringern. Doch man hat in dieser Landschaftsformation ein Problem, das auch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg in der Normandie hatten. Die Franzosen nennen das «Bocage». Das heißt, da ist ein Feld und dann kommt eine Baumreihe. Darin kann man sich verschanzen und darauf wird dann von den gegnerischen Truppen das Feuer gerichtet. Aber jeder, der angreift, muss erstmal über dieses freie Feld hinwegkommen. Und das führt zu hohen Verlusten.
Die offiziellen Zahlen zu den russischen Verlusten sind geheim. Mediazona bezifferte die Verluste auf russischer Seite im September auf 100.000 bis 120.000 Mann. Aber meine Informanten sagen inzwischen, die Verluste seien höher. Auf ukrainischer Seite wurde die Zahl der Gefallenen im September auf mehr als eine halbe Million geschätzt.
Sie haben die jüngste Reise auch gemacht, um Menschen wieder zu treffen, die Sie vor zwei Jahren getroffen und gesprochen haben. Im kurzen Vorgespräch erwähnten Sie, dass manche davon nicht mehr leben. Wie war dieses Wiedersehen? Wie war das, auf Familien zu treffen, wo Sie jemanden kannten, mit dem Sie gesprochen haben und der im Krieg gefallen ist?
Vor zwei Jahren hat uns ein Offizier der DNR-Miliz einen Tag lang in Donezk begleitet, Jewgenij Chazko. Er ist einen Monat später durch Himars-Beschuss ums Leben gekommen. Ich habe die Familie ausfindig gemacht und war mit seiner Schwiegermutter und seiner Tochter an seinem Grab. Die Tochter ist 20, sie sagte: «Ich lebe gerne in Donezk. Hier ist meine Zukunft. Das ist alles traurig, aber wir hoffen natürlich auf eine Zeit nach dem Krieg.» Und die Schwiegermutter sagte: «Mein Schwiegersohn ist gefallen. Ich bin 72, und wenn ich zehn Jahre jünger wäre, dann hätte ich auch die Waffe in die Hand genommen, denn dieser Krieg wurde uns aufgezwungen.» Diese Leute sagen: «Der Westen greift uns an, die Regierung in Kiew und die NATO, nicht die Russen. Die haben uns befreit.»
Ich habe in Mariupol einen Rentner wiedergetroffen, mit dem ich damals ein Interview gemacht hatte. Ich wusste nicht, wie er heißt, aber ich habe über eine Bekannte, die nach Deutschland geflohen ist, und über ihren Sohn, der in der Nähe wohnt, diesen Mann ausfindig gemacht und habe ihn aufgesucht. Er sagte: «Bevor wir ein Interview führen, möchte ich mich bei Putin für die ‹Spezielle Militäroperation› bedanken.» Vor zwei Jahren war er ausgebombt und wohnte zeitweise im Keller. Und heute bedankte er sich bei Putin dafür, dass er wieder eine Wohnung hat, mit neuen Fenstern drin, dass er wieder einziehen konnte! Das versteht man in Deutschland nicht.
Die westliche Presse ist psychologisch völlig blind, weil sie nicht berücksichtigt, was es bedeutet, acht Jahre lang unter Artilleriebeschuss zu leben. Und dann muss man eines sehen: In Mariupol waren große Teile des Asow-Regiments stationiert, und die haben seit 2014 die Bevölkerung drangsaliert. Slawik, dieser Rentner, berichtete, er sei 2016 von den Asow-Leuten zusammengeschlagen worden. In Mariupol ist nicht vergessen, wie der russischstämmigen Bevölkerung zugesetzt wurde. Das ist die Stimmung im Land.
Mariupol war einer der Höhepunkte der Autonomiebestrebungen 2014 und war von Asow für Kiew «zurückerobert» worden …
Ja. Ein anderer Mann, den wir in einem «Tante Emma»-Laden in Schachtjorsk getroffen haben, hat uns ein zerschossenes Haus gezeigt und gesagt, er sei Stadtrat in Mariupol. Er berichtete: «Ich war dabei im Mai 2014, als ukrainische Schützenpanzer in unsere Barrikaden reingefahren sind und die Leute überfahren haben. So was vergisst man natürlich nicht.» Die Welle der Gewalt, die nach dem Putsch auf dem Maidan insbesondere durch die östlichen Landesteile rollte, die ist nicht vergessen. Nur im Westen sind diese Ereignisse nicht präsent. Hier herrscht fast vollständige Amnesie.
Patrik Baab bei einer Veranstaltung im Juli 2024 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Wir im Westen diskutieren beim Beobachten des Geschehens inzwischen immer intensiver über Lösungen für einen Frieden, über Verhandlungen und Waffenstillstand. Wie reden die Menschen in der Ostukraine darüber? Sehen sie eine Möglichkeit, dass es in absehbarer Zeit Frieden gibt, dass dieser Krieg endet?
Unter Tränen wünscht man sich Frieden. Ich habe mit vielen gesprochen, die tränenüberströmt sagten: «Wir wollen Frieden, aber unter Frieden stellen wir uns etwas anderes vor.» Sie stellen sich vor, dass auch noch weitere Teile der Ostukraine, in denen russische Menschen leben, befreit werden. Sie sagen: «Wenn wir die Gebiete westlich des Dnjepr nicht befreien, werden wir weiter unter Beschuss liegen. Dann kann es keinen Frieden geben.»
Ich habe mit Menschen in Melitopol gesprochen, die sagen: «Das reicht noch nicht. Wir müssen weiter vorgehen und wir unterstützen die russische Armee.» Das ist die Stimmung. Das macht man sich hier in Deutschland nicht klar. Da hat die Art und Weise, wie die Ukraine seit 2014 Minderheitenpolitik gemacht hat, jede Möglichkeit einer Zusammenführung des Landes zerstört.
Aber war dort so etwas wie Kriegsmüdigkeit zu spüren?
Das ist sehr widersprüchlich. Die Bevölkerung sehnt sich nach Frieden. Sie hat den Krieg satt. Krieg ist eine Erfahrung, die im Donbass viel präsenter ist als hier in Deutschland. Man weiß, was Krieg heißt, aber man sagt: «Frieden gibt es nicht mit der Regierung in Kiew, sondern nur gegen sie. Das haben wir jetzt lange genug erlebt. Warum haben die uns beschossen?» Die Stimmung ist völlig anders, als man sich das hier vorstellt. Man muss diese Perspektive nicht teilen, aber man muss sie kennen und analysieren, damit man weiß, mit welchem Kräftefeld man es da zu tun hat.
Es gibt ja im Prinzip zwei Varianten: Der Krieg geht lange weiter oder es gibt in absehbarer Zeit eine Lösung, weil miteinander gesprochen und verhandelt wird. Haben Sie das auf der Reise erleben können, Anzeichen für die eine oder die andere Variante?
Ich habe meine Aufzeichnungen noch nicht ausgewertet. Dieser Prozess beginnt erst. Ich habe demnach meine Beobachtungen auch noch nicht abgeglichen mit dem Forschungsstand. Der Blick des Reporters reicht ja oft nicht sonderlich weit. Man muss immer im Blick behalten, was andere erlebt und herausgefunden haben. Wie wird es in der politikwissenschaftlichen und historischen Zunft eingeschätzt? Deswegen kann ich auf diese Frage keine klare Antwort geben.
Was ist Ihre eigene Einschätzung aus dem Beobachten des Geschehens?
Dieser Krieg wird noch lange weitergehen. Auch, wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, werden wir eine sehr unruhige Grenze erleben, viel unruhiger als jene zwischen Nord- und Südkorea. Denn dieser Krieg ist Teil einer weltweiten Auseinandersetzung um die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten in der Welt und um den Auf- und Ausbau einer multipolaren Welt. Auch die BRICS-Konferenz in Kasan ist ja ein Zeichen dafür, dass Russland keineswegs isoliert ist. Und da gibt es mehrere Konfliktherde. Die Ukraine ist ein Konfliktherd. Der Nahe Osten ist ein weiterer, der Kaukasus ein dritter, der zentralafrikanische Gürtel ein vierter. Dazu kommen die Spannungen in der Straße von Taiwan.
Der Westen will nicht akzeptieren, dass sich auch das ökonomische Kräftefeld nach Zentral- und Südostasien verschiebt. Die Boomtowns heißen nicht Berlin oder London, sondern Singapur und Hongkong. Das ist eine Region, in der vier Milliarden Menschen leben und die allmählich ihre Wirtschaftskraft entfaltet. In diesem weltweiten Ringen ist die Ukraine ein Schauplatz. Man könnte zugespitzt sagen: Im Krieg in der Ukraine geht es um alles, nur nicht um die Ukraine.
Noch mal kurz zurück in die Ostukraine. Immer wieder gibt es ja Meldungen, dass es dort Anschläge gibt auf Politiker, auf Militärs und so weiter. Da werden gezielt zum Beispiel Bomben in Autos platziert. Was haben Sie von dieser ukrainischen Partisanenbewegung mitbekommen?
Viel. Ich habe in meinem Buch «Auf beiden Seiten der Front» ja geschrieben, dass es speziell im Raum Melitopol und in Saporoschje eine aktive Partisanenbewegung gibt, die natürlich vom ukrainischen Geheimdienst ausgerüstet und gefördert wird. Das ist mir wieder begegnet.
Ich traf in Moskau den stellvertretenden Verwaltungschef von Melitopol, in einer der Reha-Klinik. Er hat durch eine Autobombe ein Bein verloren und wurde 40-mal operiert. Der bestätigte: «Der ukrainische Geheimdienst ist sehr aktiv und es gibt eine aktive Partisanenbewegung, zu der leider auch russische Menschen gehören.» Er hat ganz offen drüber gesprochen. Das ist kein Gerücht. Die sind da sehr aktiv, die haben Sprengstofflager angelegt.
Ich habe ihn Tage später wiedergetroffen in Melitopol, da war er wieder in seiner alten Funktion, natürlich auf Krücken, konnte aber wieder Auto fahren. Er war nicht verbittert. Da sagte er: «Ich mache jetzt viel für die Versorgung der Bevölkerung mit Hilfsgütern, Lebensmitteln, Medikamenten, in der Hoffnung, dass wir dadurch auch zeigen können, wir tun etwas für die Menschen und dass die Menschen es dann ablehnen, an Anschlägen mitzuwirken.»
Wird es über die zweite Reise in die Ostukraine ein neues Buch geben?
Ja, ich möchte wieder ein Buch schreiben. Der Abgleich mit dem Forschungsstand, die Auswertung des Erlebten, das wird mich im kommenden Jahr beschäftigen. Der Verlag und ich, wir peilen den Herbst 2025 an. So was kostet Zeit. Die Schwierigkeit besteht auch darin, ein Sachbuch zu schreiben, das die wichtigen Informationen in eine Geschichte einbettet. So stehe ich vor zwei Hürden: Einerseits das erzählerische Element und andererseits der Versuch, die Fakten daran aufzuhängen, wie man ein Haus verputzt. Das ist eine doppelte Schwierigkeit.
Schönen Dank. Wir sind gespannt auf das neue Buch.
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