Transition News: Herr Baab, Sie waren kürzlich wieder im Donbass, der heute russischen Ostukraine, zum zweiten Mal. Warum fährt ein deutscher Journalist dorthin?
Patrik Baab: Ich war bereits vor zwei Jahren dort, im Herbst 2022. Ich habe die Reise unternommen, weil ich das Gefühl hatte, dass vieles von dem, was hier in der Presse gemeldet wird, so nicht stimmt. Dass die Presse lügt durch Weglassen. Was ich bei der ersten Reise und zuvor bei meiner Reise in die Westukraine erleben konnte, habe ich in dem Buch «Auf beiden Seiten der Front» beschrieben. Wie damals, habe ich auch jetzt wieder die Stimmung in Lugansk und Donezk als sehr prorussisch erlebt. Das hat neben manchen anderen Gründen einen zentralen Grund: Diese Menschen werden im Rahmen der sogenannten Antiterroroperation von der ukrainischen Armee und ukrainischen Milizen seit April 2014 beschossen und haben mehr als 14.000 Tote zu beklagen.
Und warum sind Sie ein zweites Mal dorthin gefahren?
Das zweite Mal bin ich hingefahren, um herauszufinden, wie die Menschen jetzt leben, was sich verändert hat. Der ursprüngliche Ansatz war, diejenigen noch einmal zu treffen, die Lehrer, die Rentner, die Arbeitnehmer, die ich bereits 2022 getroffen habe. Das hat teilweise geklappt und teilweise nicht. Es kamen aber neue Beobachtungen und neue Kontakte dazu, zu ukrainischen Oppositionellen, zu Politikern, die sehr früh an dem föderalistischen, separatistischen Prozess beteiligt waren, auch zu Kriegsopfern. Das Reiseprogramm haben wir monatelang vorbereitet. Ein wichtiger Grund gilt weiter: Ich ärgere mich nach wie vor über das, was hier in der Zeitung steht.
Was hat sich im Vergleich zu der Reise vor zwei Jahren verändert? Was ist gleichgeblieben?
Zwei Dinge haben sich vor allem verändert. Das eine betrifft den Krieg und die Kriegsführung. Das andere betrifft das Leben im Donbass.
Der Krieg ist seit 2022 noch viel gefährlicher geworden, durch den massiven Einsatz von Drohnen und weitreichenden Raketen. Diese Geschosse sind endphasengelenkt, zum Teil wird der Einsatz durch künstliche Intelligenz gesteuert, sie treffen sehr genau. Das heißt, man hat auch weitab der Front keine Ruhe; die Gefahr ist allgegenwärtig.
Wir waren mit einer ukrainischen Einheit unterwegs, die auf russischer Seite kämpft, und wir hatten zwei Mal Drohnen-Alarm und mussten sofort in den Unterstand. Wir haben in Saporoschje nachts gesehen, wie die abgeschossenen Drohnen wie Sternschnuppen herunterkommen. In sternenklaren Nächten kann man die Starlink-Satelliten vorbeifliegen sehen, wie kleine Sterne, die sich zu schnell bewegen. Man muss davon ausgehen, dass das gesamte Gebiet genau von Satelliten und Drohnen überwacht wird.
Der zweite Punkt betrifft das Leben der Menschen im Donbass. Es fällt auf, dass alle Hauptverkehrswege inzwischen vierspurig ausgebaut sind. Mariupol, eine Stadt, die vor zwei Jahren noch zu 80 Prozent zerstört war, befindet sich im Wiederaufbau. Die Russische Föderation investiert Milliarden allein in diese Stadt. Es werden ganze Straßenzüge neu gebaut, ganze Wohnviertel, Wohnraum für mehr als 40.000 Menschen. In den alten Chruschtschowki (Wohngebäude aus den 1960er Jahren – Anm. d. Red.) sind überall neue Fenster drin. Man sieht natürlich noch viel Zerstörung. Man sieht Häuser, die in den oberen Etagen noch die von Bomben und Raketen schwarzverbrannten Fensterhöhlen haben, während unten schon ein wokes Café für junge Leute eingerichtet wurde. Der Donbass ist heute eine Zuwanderungsregion. Insbesondere Menschen, die in der Baubranche tätig sind, können dort leicht einen gut bezahlten Job finden. Ich habe dort mit vielen jungen Leuten gesprochen.
Eine junge Frau, Angelina, sagte, sie komme aus Rostow am Don und wolle da nicht mehr leben. Sie habe in Mariupol einen Freund, einen Job, und könne bei der Oma wohnen. Besser gehe es gar nicht für sie. Ein junger Bauingenieur berichtet, er sei wegen des Krieges aus Mariupol nach Polen geflohen, aber er sei froh, wieder zurück zu sein. Er könne auf jeder Baustelle anfangen, um Geld zu verdienen. Dies alles kommt in Deutschland gar nicht an.
Man hat fast den Eindruck, die Russische Föderation möchte den Donbass zu einem Schaufenster nach Westen ausbauen. Dies ist eine doppelte Ansage. Nach innen: Wir tun was für euch, wir lassen euch nicht hängen, wir erhöhen die Renten, wir sorgen für Jobs, wir verbessern die Wohnverhältnisse. Aber es ist auch eine Ansage an die NATO: Wir sind gekommen, um zu bleiben. Wir stellen diese Region nicht mehr zur Disposition. Und das bedeutet, dass die Ukraine am Ende des Krieges geteilt wird – wenn wir nicht alle vorher in einem atomaren Inferno verglühen.
Wie sind Sie als Deutscher empfangen worden? Auch jetzt, beim zweiten Mal. Es wäre ja möglich, dass es da mindestens Wut auf die Deutschen gibt, wenn deutsche Panzer wieder rollen.
Deutsche Panzer rollen wieder im Donbass, aber es gibt keine Deutschenfeindlichkeit, während ja inzwischen in der Bundesrepublik der Russenhass wieder allgegenwärtig ist. Wenn ich Leute aufgesucht hab, stand sofort ein Tee oder ein Kuchen auf dem Tisch. Man sagte mir: Für das, was eure Regierung macht, kannst du ja nichts.
Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen im Donbass gehört werden wollen, während im Westen immer so getan wird, als bräuchte man diesen Menschen gar nicht zuzuhören, als müssten die vom Westen befreit werden. Ich habe dort nur Menschen getroffen, die sich von der Russischen Föderation befreit fühlen und das auch sagen. Das hat damit zu tun, dass man Minderheiten-Probleme nicht, wie es die Zentralregierung in Kiew gemacht hat, mit Bomben und Raketen lösen kann.
Aber es gibt eine zweite Ebene, das ist die administrative. Als deutscher Journalist wurde ich bei der Einreise mehrfach filtriert. Dieser Prozess dauerte jeweils drei bis vier Stunden: Pass und Mobiltelefon werden beschlagnahmt, dann langes Warten in einer Baracke bis zum Einzelverhör. Das ging schon am Flughafen in Moskau-Scheremetjewo los. Da fragte mich eine Zollbeamte bei der Vernehmung, warum ich in den Donbass wolle, das sei doch gefährlich. Sie wusste, dass ich ein Buch geschrieben habe und wollte, dass ich drei russische Autoren nenne, die sich mit der «Speziellen Militäroperation» befassen. Übernächtigt, wie ich war, habe ich in meinem Kopf gekramt und ihr ein paar Namen genannt. Damit war sie zufrieden.
Auch beim Übergang ins Kriegsgebiet wurden wir filtriert. Im Donbass gilt Kriegsrecht, der Offizier vor Ort entscheidet, ob er die seltenen Gäste aus Deutschland durchwinkt oder festnimmt. Nach vier Stunden Befragung konnten wir kurz vor Mitternacht den Grenzposten verlassen und gerieten in die Sperrstunde. Ab 22 Uhr darf man sich auf der Straße nur mit Sondergenehmigung bewegen. Wir haben versucht, per Autostopp weiter zu kommen. Nach einer dreiviertel Stunde hielt tatsächlich ein Wagen an. Ein privates Taxi brachte einen Soldaten vom Fronturlaub in Woronesch noch in dieser Nacht zu seiner Einheit zurück. Er hatte einen Militärausweis und eine Sondergenehmigung, und so kamen wir gleichsam als blinde Passagiere nach Lugansk. Bei westlichen Journalisten ist man sehr strikt. Die Prozedur ist schon nervig.
Im Westen heißt es: Russland besetzt Gebiete in der Ukraine. In russischen Medien heißt es: Wir befreien Gebiete und Ortschaften. Wie erleben die Menschen vor Ort in der Ostukraine, in den Gebieten, die jetzt zu Russland gehören, diese Situation?
Die Menschen, die ich getroffen habe, erleben die Situation als Befreiung durch die russische Armee. Ein stellvertretender Verwaltungsleiter von Melitopol sagte mir, etwa fünf Prozent der Menschen seien weggegangen, wobei er offen ließ, ob sie Richtung Westen oder Richtung Russische Föderation weggegangen sind. Aber heute sei seine Stadt Melitopol wieder eine Stadt der Zuwanderung, viele junge Leute kehrten zurück, weil sie da etwas entwickeln und aufbauen könnten. Man könnte sagen: Eine Art Aufbruchstimmung im Wilden Osten.
Die Renten wurden ans russische Niveau angepasst, also im Durchschnitt um das 1,5-Fache erhöht. Die alten Menschen haben plötzlich wieder Geld in der Tasche. Dadurch, dass viel Geld reingepumpt wird, finden junge Leute leicht einen Job. Große Schwierigkeiten gibt es nach meinem Eindruck weiter in den ländlichen Regionen, wo an vielen Häusern Dächer und Fenster noch repariert werden müssen. Abseits der Hauptverkehrsstraßen gibt es noch die Schlamm- und Sandwege. Aber die Menschen fühlen sich nach meinem Eindruck nicht besetzt, sondern befreit.
Dazu muss ich sagen: Ich konnte mich frei bewegen. Niemand hat mir ausgewählte Personen vor die Nase geschoben. Wenn ich recherchiere, gibt es immer eine offizielle Struktur. Da geht es um Visa, Akkreditierungen, offizielle Genehmigungen. Dahinter liegt bei mir immer eine inoffizielle Struktur. Ste besteht aus Informanten und lokalen Helfern die ich abseits der offiziellen Wege im Vorfeld anspreche. Mit dieser Struktur arbeite ich dann.
Wie leben die Menschen in der Ostukraine? Sie haben es bereits angedeutet, aber vielleicht lässt sich das noch mal kurz ausführen. Was ist dort von den Veränderungen zu spüren?
Der Alltag kehrt in die Städte zurück. Es ist ein wenig «wie vom Eise befreit». Ich war in Lugansk, da ist der Krieg gerade einmal 80 bis 100 Kilometer nach Westen abgerückt. Die jungen Leute sind mit ihren Autos unterwegs, mit lauter Musik. Man trifft sich auf öffentlichen Plätzen. Es ist, als ob es keinen Krieg gäbe. Man merkt die Sehnsucht der Menschen nach Frieden. Dies war auch so in Donezk. Vor zwei Jahren war kein Kind auf der Straße, die Plätze waren leer, eine Geisterstadt. Inzwischen sitzen wieder die Friseurinnen vor ihren Geschäften, und in der kundenfreien Zeit rauchen sie Zigaretten und sprechen die Passanten an. Das öffentliche Leben kehrt zurück. Man sehnt sich nach Normalität. Man sieht den Wiederaufbau und sieht gleichzeitig noch parallel auch die Zerstörungen. In Mariupol beispielsweise werden die großen Stahlwerke Iljitsch und Asow in der bisherigen Form nicht wieder aufgebaut. Die Industriegebiete sollen restrukturiert werden, was Jahre dauern wird. Asow soll ein Freizeit- und Technologiepark werden. Eine neue russische Marineakademie wurde am Rande des Asow-Geländes errichtet.
Sie waren auch wieder im Frontgebiet, haben auch militärische Einheiten besuchen können. Wer kämpft auf Seiten Russlands und der Ostukraine? Wer kämpft auf der anderen Seite? Und haben Sie Nordkoreaner gesehen?
Nein, ich habe keine Nordkoreaner gesehen. Nirgendwo. Russland ist ein Vielvölkerstaat, und das zeigt sich eben auch in den militärischen Kräften, die im Donbass kämpfen. Wir waren mit Tschetschenen unterwegs.
Wir waren auch mit ukrainischen Soldaten unterwegs, die übergelaufen sind und nun auf russischer Seite kämpfen. Ich habe mit einem Soldaten gesprochen, der in Kiew Geschichtswissenschaften studiert hat. Er sagte: Ich habe die Seiten gewechselt, weil wir im Frühjahr 2022 in Istanbul fast zu einem Friedensschluss gelangt waren. Und ich kämpfe nicht für die, die diesen Frieden verhindert haben.
Wir haben die «Hispaniola»-Miliz aufgesucht. Sie ist aus dem Fußballklub Mariupol entstanden. Das sind wirklich verwegene Burschen, die auf dem Motorrad Sturmangriffe gefahren haben. Sie waren in Bahmut im Einsatz waren und hatten dort hohe Verluste. Da wir östlich des Dnjepr unterwegs waren, kann ich allerdings nichts zu den Einheiten sagen, die auf ukrainischer Seite dort kämpfen.
Hatten Sie die Möglichkeit, ukrainische Kriegsgefangene zu sprechen?
Nein, die hatte ich nicht. Ich habe keine gesehen und habe aber auch nicht gezielt danach gesucht.
Teil 2 folgt am Freitag, 1. November.