Der deutsche Publizist und Politikwissenschaftler Patrik Baab hat in der Ukraine auf beiden Seiten der Front recherchiert, im Westen vor, im Osten nach dem russischen Einmarsch. Bereits während der Recherchen zu seinem Bestseller «Auf beiden Seiten der Front – meine Reise in die Ukraine» wurde er in seiner deutschen Heimat heftig attackiert, obwohl er nur eine journalistische Pflicht erfüllte, nämlich beide Seiten anzuhören.
So stellte Christoph Pfluger, Herausgeber der Zeitschrift Zeitpunkt, Baab anlässlich von dessen Lesung am 6. Juni in Solothurn vor. Beide Seiten anhören, das ergebe viele Perspektiven und dann komme die Frage: Was ist meine Meinung? Dieser Weg zur eigenen Meinung sei befreiender als der Weg des geringsten Widerstandes, den Pfluger diplomatisch als «ungünstig» bezeichnete.
Umrahmt wurde der gut besuchte und perfekt organisierte Anlass vom Theaterkabarett Sybille und Michael Birkenmeier. Unangepasst und mit scharfer Zunge tourt das Geschwisterpaar seit 40 Jahren mit aktuellen Kabarettprogrammen durch die Schweiz.
Dann las Patrik Baab Ausschnitte aus seinem Buch vor und ließ sich dazu von Helmut Scheben befragen. Dieser hat als Auslandkorrespondent für internationale Medien und fast 20 Jahre für das Schweizer Fernsehen gearbeitet.
Im Anschluss diskutierte Pfluger mit seinen Gästen über die Rolle der Medien und wie wir uns von ihrem Einfluss emanzipieren können. Die gediegene Veranstaltung fand ihren Abschluss bei einem Apéro, bei dem alte Freundschaften aufgefrischt und neue geknüpft werden konnten.
Patrik Baabs im letzten Herbst erschienenes Buch «Auf beiden Seiten der Front» wurde zum Bestseller. Es hat vielen Menschen geholfen, sich ein realistisches Bild des Krieges zu machen und ihre Friedenskräfte zu wecken. Wie der Titel verrät, recherchierte Baab vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine und während des Krieges im Donbass.
Kabarett ist überhöhte Realität. Eingangs der Veranstaltung stand ein (Plastik-) Goldfisch in einem Mixerglas auf dem Klavier. Sybille und Michael Birkenmeier verglichen den stummen Fisch im Mixerglas mit unserem heutigen Lebensgefühl. «Mixerpräsidenten» regieren.
Keiner will etwas angestellt haben und am Ende ist alles ein «Mixverständnis». Wir seien umgeben von «Nutzis», von «Schrittmachern» – und von «Mitmachern». «Faschismus light, die alte Sau im neuen Kleid, das Vierte Reich, Businessversion.»
Im ersten Kapitel, das er las, führte Patrik Baab seine Zuhörer an eine Demarkationslinie in der Ukraine, wo er im Oktober 2022 festgehalten wurde. Er legte dar, was wohl der wachhabende Offizier denkt, welche Überlegungen zu seinen Entscheidungen führen. Diese Vorgehensweise ist charakteristisch für Baab. Er bezeichnet zwar diesen Krieg als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, diagnostiziert aber gleichzeitig im Westen eine Mischung von Hurrapatriotismus und Selbstgleichschaltung.
Patrik Baab (Foto: Transition News)
«Der Akademiker erliegt dem Dämon der Macht», bilanziert er rhetorisch gekonnt. Und: «Sollen die, die auf der Verliererseite sind, die NATO-Osterweiterung hinnehmen?»
Interessant ist auch, dass er fast keine Deutschfeindlichkeit erlebte – auf beiden Seiten. In der Schlacht bei Bachmut habe die Überlebenszeit im Durchschnitt vier Stunden betragen. Das habe sich herumgesprochen. Das Bild von Männern, die in Scharen desertieren, das Baab zeichnete, unterscheidet sich von demjenigen, das die westlichen Medien zeichnen.
Was funktioniert denn in der Ukraine eigentlich noch? fragte Scheben. Die Ukraine sei ein Land fast ohne Arbeitnehmerrechte und habe seit der Unabhängigkeit etwa 20 Millionen Einwohner verloren. Von 52 Millionen ging es hinunter auf unter 30. Die Auswanderung sei in drei Phasen verlaufen. Vor 2014 seien es Arbeitsmigranten gewesen, die das Land verlassen haben – allein drei Millionen Menschen in Richtung Russland.
In Zeiten des Bürgerkriegs, nach 2014, seien es lokale, kriegsversehrte Migranten gewesen, die mehrheitlich zu Verwandten zogen – auch nach Osten, denn die Grenze war offen. Und dann das, was wir kennen: Die Millionen von Kriegsflüchtlingen, die ab 2022 die Ukraine verließen – nicht nur Richtung Westen, auch Richtung Russland.
Das Land sei zu 100 Prozent abhängig von westlicher Finanzhilfe. Und wer zahlt, befiehlt. Die Ukraine gehe so indirekt in die Hände der Oligarchen über. Schwarzerde sind die fruchtbarsten Böden – und die Ukraine verfügt über 30 Prozent der weltweit vorhandenen Schwarzerdeböden.
Viele Jahre war es Ausländern verboten, diese zu kaufen. Als die Kolchosen nach dem Fall des Kommunismus privatisiert wurden, griffen die «roten Barone» zu, wie Baab zeigte. Das war aber ziemlich unproduktiv. Man nahm Kredite auf, teils aus dem Ausland, musste sich an Auflagen halten, aber dann fiel das Verbot mit dem EU-Assoziierungsabkommen. Auch Gentechnik war plötzlich in Ordnung. «Im Krieg geht es auch um die Nahrungsmittelkette», folgerte Baab.
Die gleichen Investoren investieren auch in Rüstung – und verwalten die ukrainischen Staatsschulden, die die USA dann später europäisieren. Der ukrainische Staatsschatz wurde aber nach New York ausgeflogen. Somit haben die USA die Ukraine in der Hand, berichtete Baab.
Es würden viele Freiwilligenbataillone und Privatarmeen in der Ukraine kämpfen, Mitglieder der regulären Armee seien von der Perspektive eines Kampfeinsatzes nicht begeistert. Ein Bürgerkrieg wie die Ereignisse ab 2014 hätten ein Hilfspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF) an sich ausgeschlossen. Diese Hilfe seien aber trotzdem gewährt und später veruntreut worden.
Scheben stellte dann die Frage nach ukrainischem Faschismus, die oft auch in den Leitmedien diskutiert wird. Es gebe durchaus eine Kontinuität des ukrainischen Faschismus, die die Zeit seit 1920 überdauert habe. Die Banderisten, benannt nach ihrem Anführer im Zweiten Weltkrieg, Stepan Andrijowytsch Bandera, flohen nach dem Krieg in großer Zahl in den Westen, vor allem nach Kanada und bildeten Untergrundgruppen. Innerhalb der Ukraine überdauerte der Ultranationalismus vor allem bei Sprachforschern, denn das war auch in der Sowjetzeit gestattet.
Heute gebe es in der Ukraine tatsächlich faschistische Milizen mit guter Verankerung in der Bevölkerung und ultranationalistische Jugendgruppen mit Bandera als Nationalheld. Seit den 2014er Maidan-Protesten, die nach jenem zentralen Platz in Kiew benannt wurden, seien diese Netzwerke im Sicherheitsapparat stark vertreten und würden heute den Präsidenten vor sich hertreiben.
Kurz: Im Westen würde das heruntergespielt, in Russland übertrieben. Es gebe aber tatsächlich ein Bündnis der NATO mit dem ukrainischen Faschismus. Das würde auch dazu führen, dass Söldner mit Kampferfahrung nach Westeuropa zurückkommen, was letztlich zu einer Militarisierung Europas führe.
Baab hinterfragte sodann die westliche Sicht auf den Maidan, wonach es sich um einen Gegensatz zwischen Diktatur und Demokratie gehandelt habe. Aber es sei eine perfekt inszenierte Show gewesen, was allerdings die Presse nicht hören wolle. Eine einigermaßen demokratisch legitimierte Regierung sei gestürzt worden, wobei sich damals der russische Präsident Putin nicht habe einmischen wollen.
Der Erste Weltkrieg, so präzisierte Baab, sei in der Ukraine erst 1922 zu Ende gegangen. Nach 1918 sei noch der russisch-polnische Krieg und dann ein russischer Bürgerkrieg gefolgt. Das hatte zwei Folgen: Weite Teile der heutigen Westukraine, Gebiete um die Städte Lemberg (ukr. Lwiw, poln. Lwów) gehörten nun zu Polen, während der Osten zur Sowjetunion gehörte. Das habe zu einer landwirtschaftlich-ländlich geprägten Westukraine und einem stark industrialisierten Donbass geführt.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg sei auch mit dem Bau des riesigen Wasserkraftwerkes am Dnjepr begonnen worden. Das seien die Gebiete, in denen die Aufstände begannen. Wobei: Auf beiden Seite hörte Baab immer die Aussage: «Wir wollten diesen Krieg nicht».
Baab erklärte zum Schluss, dass sich die Beschüsse des Donbass von der ukrainischen Seite aus im Januar und Februar 2022 stark intensivierten. Wollte die Ukraine und damit der Westen eine Invasion provozieren? Oder wollte man die Rückeroberung des Donbass vorbereiten? Die Antwort kennen wir heute nicht. Werden wir sie jemals kennen?
Der Abend schloss mit einem kurzen Podium bestehend aus Christoph Pfluger, Sybille Birkenmeier, Patrik Baab und Helmut Scheben, das um die Frage kreiste, wie man sich von den Leitmedien emanzipieren könne.
Von links nach rechts: Christoph Pfluger, Sybille Birkenmeier, Patrik Baab, Helmut Scheben (Foto: Transition News)
In den Milleniumsjahren habe es eine transatlantische Korrumpierung der Eliten in Europa gegeben, in Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur. Seit Schröder und Chirac gesagt hätten, sie würden bei der «Koalition der Willigen» beim Angriff auf den Irak nicht mitmachen, habe man eine Art «atlantische Banker-Jetset-Kaste» geschaffen, die überall Schlüsselpositionen einnähmen.
Während Pfluger feststellte, dass die alternativen Medien die kritische Masse noch nicht erreicht hätten, schlugen Birkenmeier und Scheben positivere Töne an: «Es riecht nach Zukunft», meinte die Kabarettistin, und es gebe so viele Dinge, über die man sich kaputtlachen könne. Scheben erhielt kürzlich sogar einen Anruf von Alice Schwarzer. Und die deutsche Feministin wollte nicht kritisieren.
Die veröffentlichte Meinung und die öffentliche Meinung seien zwei komplett verschiedene Paar Schule. Und was, wenn die Politiker sehen, dass sie mit ihrer Kriegstreiberei keine Wahlen mehr gewinnen? Immerhin sei die Wahrheit billiger als die gekonnte Lüge.
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