Unter dem Titel «Die digitale Souveränität Europas neu denken» veröffentlichte Politico einen Meinungsbeitrag zweier Senior-Partner am Digital Forensic Research Lab der US-Denkfabrik Atlantic Council. Das Credo: Von der Leyens derzeitige dominante Stellung biete die Chance, die EU in ein globales Innovationskraftzentrum zu verwandeln.
Nach der Bekanntgabe der neuen Zusammensetzung der Europäischen Kommission ist für die Autoren Mark Scott und Konstantinos Komaitis eines klar:
«Dies ist die Welt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und wir alle leben mittendrin.»
Die deutsche Politikerin habe die Kontrolle darüber übernommen, wie die Mitgliedsländer die neuen Kommissare auswählen – und potenzielle Störenfriede wie den ehemaligen Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen Thierry Breton aus dem Amt gedrängt. So sei sie nun bereit, ihre Hauptpriorität in Angriff zu nehmen: die europäische Wirtschaft digitaler – und grüner – zu machen.
Von der Leyens erste fünfjährige Amtszeit sei durch eine «verworrene digitale Strategie» gekennzeichnet gewesen, die sich auf die sogenannte «technologische Souveränität» konzentriert habe. Diese Strategie sei auch am aggressivsten von Breton vorangetrieben worden. Von der Leyens derzeitige dominante Position biete jedoch die Möglichkeit, diesen Ansatz zu überarbeiten, argumentieren die US-Vordenker.
Der Wunsch Brüssels, global mit China und den USA zu konkurrieren, habe dazu geführt, dass der Block oft alten Industrie-Riesen Priorität eingeräumt habe, die mit Milliarden von Euro an öffentlichen Geldern gefördert worden seien. Diese Bemühungen, europäische Versionen von Google oder Amazon zu schaffen, seien jedoch in überwältigender Weise gescheitert, so die Autoren.
Die Kommissionspräsidentin solle eine offenere Version ihrer «bahnbrechenden Digitalpolitik» einführen, raten Scott und Komaitis. Darunter verstehen sie eine, die auf Protektionismus und die Förderung alter Industrien verzichte. Stattdessen solle der Schwerpunkt auf unternehmerisches Engagement und die Anbindung der europäischen Wirtschaft an andere Märkte gelegt werden. Im Bereich der Digitalisierung habe Europa viel zu bieten, nicht nur durch seine Vorschriften wie das Gesetz über digitale Dienste (DSA) und das Gesetz über Künstliche Intelligenz.
Glücklicherweise verfüge die neue EU-Kommission über die Voraussetzungen, um dies zu erreichen, urteilen die Vertreter des Atlantic Council. Mit der Wahl der Finnin Henna Virkkunen zur Exekutiv-Vizepräsidentin der Kommission für technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie habe von der Leyen deutlich gemacht, dass sie den Block in digitalen Fragen weltweit wettbewerbsfähig machen wolle.
Finnland sei das Aushängeschild für eine dynamischere Version der digitalen Agenda Europas, schwärmen die Autoren. Das Land verfüge derzeit über die meisten Cloud-Computing-Dienste unter den EU-Mitgliedern. Außerdem habe man dort den Einsatz von Hochleistungsrechnern in öffentlichem Besitz verdoppelt, die eine Voraussetzung für die Entwicklung von KI-Systemen der nächsten Generation seien. Dies solle ein Modell für den Rest Europas sein.
Nicht so optimistisch ist derweil Reclaim The Net. Die Tatsache, dass Virkkunen eine wichtige Rolle bei der Erstellung des DSA gespielt habe, mache sie wohl eher zu einer «Zensur-Verstärkerin» als zu einer «Technik-Impulsgeberin», wie sie weitläufig in den Medien genannt werde.
Das Portfolio der finnischen Konservativen soll neben DSA und KI-Politik auch eine EU-einheitliche Cloud-Politik, das Thema Konnektivität mit dem Digital Networks Act (DNA) und das Vorantreiben der digitalen Brieftasche der EU umfassen.
Kommentar Transition News:
Die Sichtweise unserer transatlantischen Freunde überrascht selbstverständlich nicht. Immerhin zählt der Atlantic Council zu den Denkfabriken mit bester Anbindung an den US-Machtapparat und mit bester Förderung durch die Industrie. Das Digital Forensic Research Lab, zu dem die beiden Autoren gehören, widmet sich insbesondere der «Bekämpfung von Falschinformationen und russischer Propaganda».
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