Der Fall des Westens
wird nicht durch einen russischen Sieg,
sondern durch einen Zerfall der USA
von innen heraus erfolgen.
Emmanuel Todd
Liebe Leserinnen und Leser
Statt gegen Migranten und Beamte zu wettern, sollten die Unzufriedenen in den westlichen Ländern sich anschauen, wieviele Studierende es in völlig unproduktiven Fachrichtungen gibt. Diese erstaunliche Empfehlung habe ich in Emmanuel Todds neuem Buch «Der Westen im Niedergang» gefunden.
Ich finde sie bemerkenswert, im wahrsten Wortsinn. Und ich, selbst mit akademischer Ausbildung mit Abschluss Diplom, befürchte, dass der französische Anthropologe Recht hat: Nicht jene, die vor Krieg, Hunger und Armut fliehen, in der Hoffnung, vom Wohlstand des Westens etwas abzubekommen, liegen uns «auf den Taschen», wie manche meinen.
Es sind auch nicht jene Bürger, die mit Hilfe der Sozialleistungen überleben, weil sie arbeitslos geworden sind oder weil sie sich längst in einem Leben eingerichtet haben, in dem sie als Arbeitskräfte anscheinend nicht mehr gebraucht werden. Und die sich manchmal verständlicherweise angesichts der niedrigen Löhne fragen, ob sich das Arbeiten dafür im Vergleich zum Beziehen von Sozialleistungen lohnt.
Die wahren «Parasiten», wie Todd sie nennt, sind die Akademiker, die sich vermehren, während es immer weniger gibt, die produzieren und so real zum Wohlstand beitragen. Er verweist dabei auf Zahlen aus Frankreich, wo es im Jahr 1980 16‘000 Studenten an den Schulen für Handel, Verwaltung, Rechnungswesen und Vertrieb gab – 2021/22 waren es schon 239‘000. Die Zahlen im deutschsprachigen Raum dürften bei graduellen Unterscheiden ähnlich sein.
Der Anthropologe sieht als Ursache das Ideal der Meritokratie: die Vorherrschaft einer Schicht, die sich vermeintlich durch Bildung, Leistung und Verdienst auszeichnet. Dadurch werde die Demokratie untergraben, in dem die Ungleichheit angeheizt werde.
Ursprünglich sei es im Westen darum gegangen, im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts den Wettlauf mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung auch durch die Bildung, durch eine hohe Zahl von Wissenschafts- und Technologiestudenten, zu gewinnen. Doch inzwischen gebe es unter der hohen Zahl an akademisch Ausgebildeten nur noch einen geringen Anteil von Wissenschaftlern und Technologen, so in den USA nur noch 7,2 Prozent.
Todd schreibt von einer «sozialen Flucht intelligenter Köpfe im Inland» und zwar in in die Felder Rechtswissenschaft, Finanzwesen und in die Handelsschulen beziehungsweise Wirtschaftsfakultäten. Es handele sich um Sektoren, «in denen höhere Gehälter erzielt werden können als im Ingenieurwesen oder in der wissenschaftlichen Forschung».
Dieses Phänomen sei von den Ökonomen zum einen ignoriert worden und zum anderen als Beleg dafür gesehen worden, dass die relativ hohe Zahl gutbezahlter Gutausgebildeter Ausdruck der Leistungsfähigkeit des westlichen Systems ist – ohne genau hinzuschauen, womit da Geld verdient wird.
«Mit der Behauptung, dass diejenigen, die am meisten studierten, auch die besten Einkommen erzielten, glaubten diese Schlaumeier, einen effektiven Beitrag zur Bildung zu leisten, eine Verbesserung des Humankapitals.»
Dabei bewirke eine Hochschul- oder Universitätsausbildung in Jura, Finanzwesen oder Handelswesen «keinerlei Verbesserung der produktiven oder gar intellektuellen Fähigkeiten der betroffenen Individuen». Dagegen verschaffe sie ihnen «aber aufgrund ihrer sozialen Stellung eine höhere Fähigkeit verleiht, den vom System erzeugten Wohlstand zu räubern». Todds Fazit:
«Die höheren Einkommen der besser Gebildeten spiegeln die Tatsache wieder, dass Anwälte, Banker und viele andere, die im Dienstleistungssektor untergetaucht sind, im Rudel hervorragende Räuber sind. Dies ist also die ultimative Perversion, zu der die Entwicklung der Bildung geführt hat: Die Vermehrung der Absolventen schafft eine Vielzahl von Parasiten.»
Der Anthropologe empfiehlt jenen, die Angst bekommen und sich fragen, warum ihr Land verarmt, eben den Blick auf die Zahl von Studenten in den erwähnten unproduktiven, aber gesellschaftlich gefragten Fachrichtungen. Er belegt das von ihm beschriebene Phänomen auch mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA, der (noch) führenden westlichen Macht: Das bestehe in seiner überwältigenden Mehrheit aus Dienstleistungen von Menschen, deren Effizienz oder Nutzen nicht immer erkennbar sei.
Er zählt dazu überbezahlte Ärzte (die manchmal sogar töten, wie der anhaltende Opioid-Skandal in den USA zeige), Anwälte, räuberische Finanziers, Gefängniswärter und Geheimdienstmitarbeiter. Im Jahr 2020 sei in das US-BIP sogar die Tätigkeit der 15‘140 Ökonomen des Landes als Mehrwert einberechnet worden, «die größtenteils Hohepriester der Lüge sind und ein durchschnittliches Jahresgehalt von 121‘000 Dollar haben.
In der Bundesrepublik Deutschland würde eine entsprechende Analyse zu ähnlichen Ergebnissen kommen, ist zu vermuten. Heute studiert jede und jeder Zweite, während in den 1980ern diese Zahl in der alten BRD unter 20 Prozent lag. Allerdings machte 2020 der Anteil an Ingenieuren unter den Studenten in Deutschland laut Todd immerhin noch 24,2 Prozent aus – gegenüber 7,2 Prozent in den USA. Ein Blick in die deutsche Politik und die dort vertretenen Berufsgruppen – egal bei welcher Partei – zeigt aber, dass es da nicht anders aussieht
In seinem hochinteressanten Buch über den westlichen Niedergang macht Todd darauf aufmerksam, dass die einstige Stärke der westlichen Gesellschaften, ihr Bildungsideal, inzwischen eine der Ursache ihres Niedergangs ist. So würden die fehlenden hochqualifizierten Arbeitskräfte, Ingenieure und Technologen inzwischen aus anderen Ländern einfach importiert. Das wird dann als gewollte oder «legale» oder «reguläre» Migration gesehen und bezeichnet.
Bevor mich jemand irrtümlicherweise der vermeintlichen Intellektuellenfeindlichkeit zeiht, empfehle ich an dieser Stelle nochmal das Buch von Emmanuel Todd, das es nun auch auf Deutsch gibt. Darin sind noch andere überraschende Erkenntnisse und Einsichten zu finden, die zum einen verunsichern, aber vor allem bereichern können.
Ich hoffe, dass das – also das Bereichern – auch meinen Kolleginnen und Kollegen sowie mir mit unseren Beiträgen auf Transition News gelingt. Diese empfehle ich Ihnen ebenfalls mit diesem Newsletter und wünsche Ihnen außerdem ein freundliches Wochenende!
Herzliche Grüße
Tilo Gräser