«Warum führte die Hamas am frühen Morgen des 7. Oktober einen Überfall auf eine Reihe von unbewachten Kibbuzim im Süden Israels durch? Warum waren an diesem Morgen nur wenige israelische Soldaten im Dienst?»
Diese und andere Fragen seien bis heute unbeantwortet, stellt der investigative US-Journalist Seymour Hersh in einem aktuellen Text fest. Und er meint:
«Wir in den Medien kennen nicht die ganze Geschichte.»
Hersh verweist auf das Schweigen des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu zum Versagen der Sicherheitskräfte des Landes am 7. Oktober. Dagegen hätten sich bereits einige führende Generäle der israelischen Armee öffentlich entschuldigt. Zudem habe die palästinensische islamistische Organisation Hamas erklärt, der Angriff habe eigentlich nur das Ziel gehabt, israelische Geiseln für einen Gefangenaustausch zu machen.
Laut Hamas sei das Chaos an dem Tag im Grenzgebiet vor allem von anderen bewaffneten Gruppen der Palästinenser sowie aufgebrachten Bürgern aus Gaza verursacht worden, die die offene Grenze ausnutzten. Hersh schreibt auch, dass die massive Zerstörung von Gaza-Stadt und die angekündigte Bodenoffensive darauf hindeuten, «dass Israel bereit war, die noch in Gefahr befindlichen Geiseln abzuschreiben».
Dem US-Journalisten zufolge wird öffentlich nicht mehr darüber gesprochen, dass die Qassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, von anderen militärischen Gruppen der Palästinenser begleitet, wenn nicht gar unterstützt wurden. Das sei an einem Tag geschehen, «an dem die israelische Armee mindestens acht Stunden lang nicht in den angegriffenen Kibbuzim und Dörfern präsent war».
Hersh hatte zuvor berichtet, dass kurz vor dem Hamas-Überfall zwei israelische Armee-Bataillone von der Grenze zu Gaza abgezogen wurden. Die sollten stattdessen ein Fest von jüdischen Siedlern im Westjordanland nahe bei palästinensischen Dörfern schützen. Durch die Truppenverlegung sei die 51 Kilometer lange Grenze zum Gazastreifen nur noch von etwa 800 israelischen Soldaten bewacht worden.
Ein «gut informierter» US-Regierungsbeamter habe ihm erklärt, dass die palästinensische Al-Aqsa-Märtyrer-Brigade an dem Angriff beteiligt gewesen sei, schreibt er in seinem aktuellen Text. Der Überfall sei von der Hamas lange vorbereitet worden, die dafür Verbündete geworben habe. Doch mit einem Erfolg der Aktion sei nicht gerechnet worden.
Hersh zitiert ausserdem einen namentlich nicht genannten US-amerikanischen Nahost-Experten, aus dessen Sicht der lange geplante Angriff am 7. Oktober ausser Kontrolle geriet. Ziel sei eine schockierende Militäroperation gewesen, «die die Israelis demütigte und sie in ihren Grundfesten erschütterte. Die militärischen Befehlshaber der Hamas hatten eine Karte der Stützpunkte [innerhalb Israels] und wollten die Computerserver mit all den potenziell kompromittierenden Informationen, die sie enthielten, mitnehmen und hätten sie wahrscheinlich zur Analyse an den Iran geschickt.»
Zudem sei es darum gegangen, israelische Soldaten gefangen zu nehmen und im Austausch gegen Tausende palästinensische Gefangene freizulassen. Auch sollte damit gefordert werden, die israelische Belagerung des Gaza-Streifens zu beenden.
Der Nahost-Experte bestätigte laut Hersh, dass die durch den Hamas-Angriff geöffnete Grenze von anderen Widerstandsgruppen und wütenden Menschen aus Gaza genutzt wurde, um nach Israel einzudringen.
«Der Experte sagte, ihm sei gesagt worden, dass der Angriff auf die nächtliche Tanzparty – an jenem Morgen wurden 260 junge Israelis abgeschlachtet – nicht Teil des ursprünglichen Plans gewesen sei, aber niemand bestreitet, dass die Morde auf der Tanzparty und in den israelischen Siedlungen letztlich von der Hamas zu verantworten sind, ob geplant oder nicht.»
Der vorbereitete gezielte Angriff habe sich in einen «Gefängnisausbruch» verwandelt, gibt Hersh seine Quelle wieder. Für die Hamas sei die israelische Reaktion nicht entscheidend. Wichtig sei ihr, dass sich die israelische Armee IDF vom 7. Oktober nicht erholen werde. Die Operation sei ein «katastrophaler Erfolg» geworden.
«Es gibt Dutzende von Videos, die belegen, dass es sich eindeutig um einen Blitzangriff handelte, der aufgrund eines verblüffenden Versagens der israelischen Verteidigungskräfte gelang, das bisher nicht zur Bestrafung eines einzigen israelischen Armeeoffiziers geführt hat. Diese Möglichkeit – dass das ursprünglich begrenzte Ziel der Hamas im Wesentlichen aufgrund des Versagens der israelischen Streitkräfte zu dem schrecklichen Ereignis wurde – muss von der militärischen und politischen Führung Israels noch anerkannt werden.»
Dagegen glaubten die führenden Kreise Israels, «dass die Hamas und andere Gruppierungen aus dem Gazastreifen nach Israel eindrangen mit dem ausdrücklichen Befehl, so viele Zivilisten und Soldaten wie möglich zu töten und zu entführen». Das hätten unter anderem offiziell gemeldete Behauptungen von geköpften israelischen Säuglingen und Kleinkindern gezeigt, für die es keine Beweise gebe.
Netanjahu überschüttet laut Hersh die schockierte und fragenstellende israelische Öffentlichkeit «mit Schimpf und Schande». Dagegen weigere er sich, öffentlich die Verantwortung für das militärische und geheimdienstliche Versagen am 7. Oktober zu übernehmen.
Am selben Tag, an dem Hersh den Beitrag veröffentlichte, erschien ein Interview mit dem russischen Geheimdienstexperten Sergej Pereslegin, der auf weitere offene Fragen hinwies. Aus seiner Sicht hat der Hamas-Überfall – «ein echter Erfolg» – Israel schwere Verluste zugefügt.
Pereslegin bezeichnet als «wichtigste Frage», die beantwortet werden müsse:
«Wer aus dem Inneren Israels half ihnen bei der Durchführung der Operation? Und dass dort eine fünfte Kolonne operierte, bestreitet heute niemand mehr, auch nicht die israelische Führung.»
Statt sich mit Verrätern zu befassen, habe die israelische Führung die Offensive gegen den Gaza-Streifen begonnen, so der Geheimdienstexperte. Er sagte ausserdem:
«Das heisst, der Geheimdienst hat aufgehört, seine Arbeit zu machen. Und die Spionageabwehr scheint die Masse an Maulwürfen in ihren eigenen Reihen übersehen zu haben.»
Die israelische Grenze zum Gaza-Streifen sei umfassend kontrolliert worden, so dass sofort auf das kleinste Signal reagiert worden sei. «Unter einer solchen Kontrolle ist es unmöglich, sich unbemerkt Punkten der Verteidigungsarmee zu nähern», so Pereslegin.
«Dies konnte nur in einem Fall geschehen – in Anwesenheit eines Verräters, der die entsprechenden Sensoren einfach ausschaltete.»
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2022 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare