Der EU-freundliche Kandidat Nicușor Dan hat trotz schwacher erster Runde die Präsidentenwahlen in Rumänien überraschend deutlich gewonnen, was vom unterlegenen Kandidaten George Simion als Beweis für Betrug und ausländische Einflussnahme – insbesondere durch die EU, Frankreich und Moldawien – gewertet wird (wir haben hier, hier, hier und hier über die Präsidentenwahlen in Rumänien berichtet). Simion kritisiert Unstimmigkeiten bei den Wählerzahlen, vermutet Stimmen von Verstorbenen und spricht von massiver Manipulation insbesondere in der Diaspora. Was ist an den Vorwürfen dran?
Zuerst die Zahlen. In der ersten Runde der rumänischen Präsidentenwahlen am 4. Mai nahmen 11 Kandidatinnen und Kandidaten teil. Der EU-kritische, nationalkonservative Kandidat George Simion erhielt 41% der Stimmen. Der Pro-EU-Kandidat Nicușor Dan erhielt 21%.
In der zweiten Runde mit nur den beiden Erstplatzierten bekam Simion 46,4%, während Dan ihn überflügelte und 53,6% erreichte – ein Zuwachs von 155%. Um dies zu erreichen, hätte Dan die Unterstützung von 87% der Wähler benötigt, die in der ersten Runde weder ihn noch Simion gewählt hatten. Aber auch Simion legte zu.
Woher kommt also dieser Anstieg? Simion behauptete, dass 1,7 Millionen Tote in den Wählerverzeichnissen stünden, und rief die Bevölkerung dazu auf, über eine spezielle WhatsApp-Kontaktlinie zu überprüfen, ob verstorbene Verwandte oder Freunde abgestimmt hätten. Das wäre Wahlbetrug. Bis heute lässt sich ein solcher nicht verifizieren. Aber wie Dan es geschafft hat, die Ziellinie als erster zu überschreiten, lässt sich mittlerweile ganz gut nachvollziehen. Die Fakten stehen – wenn auch nicht sehr prominent – in den Leitmedien. Es sei vorweggenommen: Es geht auch ohne richtigen Betrug!
Dazu ist eine kleine Geschichtslektion hilfreich. Rumänien wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom ottomanischen Reich unabhängig. Große Gebiete, die heute zu diesem Land gehören, verblieben aber bei Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Budapest etwa zwei Drittel seines Staatsgebietes, was bis heute als Trauma wahrgenommen wird. Unter anderem betraf das Siebenbürgen und den Banat, Gebiete, die seither mit einem kurzen Unterbruch zu Rumänien gehören.
Allerdings leben dort immer eine ungarische und eine schrumpfende aber wirtschaftlich wichtige deutschsprachige Minderheit. In Siebenbürgen gibt es nach wie vor praktisch geschlossen ungarische Siedlungsgebiete – die entsprechende Minderheit umfasst etwa eine Million Menschen. Wenn man nun die Wahlergebnisse betrachtet, dann erkennt man ungefähr die Grenzen von vor 1918!
In Siebenbürgen und in den städtischen Gebieten des ganzen Landes schnitt Dan in beiden Wahlgängen hervorragend ab, während Simion außer in Siebenbürgen auf dem Land punktete. Da aufgrund dieser Tatsachen vorhersehbar war, in welche Richtung in jedem Kreis das Ergebnis kippt, kann man dieses durch großzügige respektive eingeschränkte Öffnungszeiten der Wahllokale und großzügige respektive eingeschränkte Verfügbarkeit von Stimmzetteln beeinflussen. In diese Richtung deuten Äußerungen von Simion. Dieser erklärte, dass einige Wahllokale geschlossen gewesen seien oder in bestimmten Regionen nicht genügend Stimmzettel bereitlagen.
Die Ungarn Siegenbürgens sind meist Doppelbürger. Bei ungarischen Wahlen unterstützen sie in der Regel die Partei des jetzigen Ministerpräsidenten Viktor Orban. In Rumänien verfügen sie über eine eigene Partei, dank deren Wirken sich das Verhältnis der Volksgruppen in Siebenbürgen in den letzten Jahren entspannt hat. Diese Partei wendete sich nun gegen Simion und gab eine Wahlempfehlung zugunsten von Dan aus.
Was war der Anlass dafür, dass, obwohl sich Orban ausdrücklich für den souveränistischen Simion ausgesprochen hatte, seine Landsleute in Siebenbürgen praktisch geschlossen für Dan stimmten? Simion ist nicht nur nationalistisch, sondern auch den Minderheiten in seinem Land feind. Seine Hetze gegen die Minderheiten in Siebenbürgen und im Banat sind dort nicht gut angekommen – nicht nur bei den Minderheiten.
Der zweite Aspekt ist die Diaspora. Auch hier hilft ein Blick in die Geschichtsbücher. Die heutige Republik Moldawien ist ein Gebilde, das während Jahrhunderten umstritten war. Mit dem langsamen Rückzug der Osmanen aus Südosteuropa kam es vorerst nicht zu Rumänien, sondern zum Zarenreich.
Die Sprache ist mutatis mutandis, die gleiche wie in Rumänien, wurde aber bis in jüngster Zeit kyrillisch geschrieben. Im abtrünnigen Landesteil Transnistrien ist das noch heute so. In der Zwischenkriegszeit gehörte das Land zu Rumänien und nach dem Zweiten Weltkrieg war es bis zur Unabhängigkeit 1990 eine Sowjetrepublik.
Naturgemäß gibt es auch dort viele Doppelbürger. Dieser Status ist attraktiv, weil damit das Tor zu einer Arbeit in der EU offensteht. Es braucht also wenig Vorstellungskraft, um zu ermessen, wie diese Doppelbürger politisch ticken. Zusätzlich steht Simion für einen Anschluss Moldawiens an Rumänien, was in Moldawien unpopulär ist. Von solchen moldawisch-rumänischen Doppelbürgern erhielt Dan 135.000 Stimmen, oder 88% der wählenden Doppelbürger.
Auch hier kann man diesen Personen das Wählen gezielt durch viele Wahllokale oder das Erlauben der Briefwahl erleichtern. Wie das geht, hat Moldawien im letzten Jahr vorexerziert (wir haben hier darüber berichtet). Simion beschuldigte die moldawische, EU-treue Regierung eines «immensen Betrugs», nachdem Berichte auftauchten, dass rumänische Auswanderer in Moldawien dreimal so häufig wie in der ersten Runde abgestimmt hätten.
In der gesamten Diaspora – also auch rein rumänische Staatsbürger - wurden im zweiten Wahlgang 1,64 Millionen Stimmen abgegeben – 660.000 mehr als in der ersten Runde, in der Simion mit 61% gegenüber Dans 25,4% klar gewann. Auch hier kann man, je nachdem, wo diese Auslandsrumänen leben, gezielt die Stimmabgabe behindern oder fördern.
Man kann, wie das gewisse alternativen Medien tun, dies als Betrug bezeichnen. Aber das war es wohl nicht – beeinflussen kann man das Ergebnis auch durch das oben Erklärte. Erleichtert wird diese Manipulation dadurch, dass im konkreten Fall sehr gut abschätzbar ist, wer wie stimmt.
Simions Fehler war, dass er sich durch seine Hetze gegen Minderheiten und paternalistische Sprache gegenüber Moldawien diese Bevölkerungsgruppen zum Feind gemacht hat.