Dass die veröffentlichte Forschung nicht immer korrekt ist, wissen wir nicht erst seit «Corona». Auch Betrug ist der Wissenschaft nicht fremd. Regelmäßig werden veröffentlichte Studien zurückgezogen. Die Website Retraction Watch verfolgt diese. So wurden beispielsweise bereits Hunderte Covid-Studien zurückgezogen (wir berichteten).
Als fehlerhaft erkannte Studien geistern aber oft weiter als Referenzen in der Fachliteratur herum. Ein groß angelegtes Projekt zielt nun darauf ab, Arbeiten zu finden, deren Ergebnisse fragwürdig sein könnten, weil sie zurückgezogene oder problematische Forschung zitieren. Nature berichtete darüber.
Im Januar wurde beispielsweise ein Übersichtsartikel über Methoden zur Erkennung menschlicher Krankheiten durch Untersuchung des Auges in einem Tagungsband veröffentlicht, der vom Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) in New York City herausgegeben wurde. Doch weder die Autoren noch die Herausgeber bemerkten laut Nature, dass 60 Prozent der zitierten Arbeiten bereits zurückgezogen worden waren. Dieser Fall gehöre zu den extremsten Beispielen des Projekts.
Der Initiator, der Informatiker Guillaume Cabanac von der Universität Toulouse in Frankreich, teilte seine Daten mit dem Nature-News-Team. Dieses analysierte sie, um die Arbeiten zu identifizieren, die stark auf zurückgezogene Studien verweisen, aber selbst noch nicht zurückgezogen wurden. Cabanac erklärte:
«Wir beschuldigen niemanden, etwas falsch gemacht zu haben. Wir stellen lediglich fest, dass in einigen Bibliografien die zitierten Quellen zurückgezogen oder widerrufen wurden, was darauf hindeutet, dass die Arbeit möglicherweise unzuverlässig ist.»
Der Forscher nennt sein Werkzeug einen «Feet of Clay Detector», in Anlehnung an ein biblisches Gleichnis über Statuen oder Bauwerke, die aufgrund ihrer schwachen Tonfundamente einstürzen.
Das IEEE-Papier steht auf der von Nature erstellten Liste an zweiter Stelle, mit 18 von 30 zitierten Studien, die zurückgezogen wurden. Die Autoren reagierten nicht auf Anfragen zur Stellungnahme, aber IEEE-Integritätsdirektor Luigi Longobardi teilte mit, dass der Verlag bis zur Anfrage von Nature nichts von dem Problem wusste und nun eine Untersuchung einleitet.
Cabanac, der sich auf die Integrität wissenschaftlicher Forschung spezialisiert hat, hat dem Fachjournal zufolge bereits Software entwickelt, um Tausende problematische Arbeiten in der Literatur zu identifizieren, etwa wegen computergenerierten Texten oder verdecktem Plagiat. Er hoffe, dass sein neuester Detektor eine weitere Möglichkeit bietet, schlechte Forschung daran zu hindern, sich in der wissenschaftlichen Literatur auszubreiten – einschließlich gefälschter Arbeiten, die von sogenannten «Papermill»-Firmen erstellt wurden. Den Detektor hat er in den letzten zwei Jahren entwickelt und kürzlich in einem Beitrag in Nature beschrieben.
Cabanac listet die Ergebnisse seines Detektors auf seiner Website auf, hat aber auch an anderen Stellen im Internet – auf der Plattform PubPeer und in den sozialen Medien – mehr als 1700 Arbeiten explizit markiert, die ihm aufgrund ihrer Abhängigkeit von zurückgezogener Forschung aufgefallen sind.
Einige Autoren haben sich gemäß Nature bei Cabanac dafür bedankt, dass er sie auf Probleme in ihren Referenzen aufmerksam gemacht hat. Andere würden argumentieren, dass es unfair sei, ihre Arbeit aufgrund von Rücknahmen infrage zu stellen, die nach der Veröffentlichung erfolgt seien und ihrer Meinung nach keinen Einfluss auf ihre Arbeit haben.
Zurückgezogene Referenzen würden nicht definitiv zeigen, dass eine Arbeit problematisch ist, bemerkt Tamara Welschot, die zum Team für Forschungsintegrität bei Springer Nature in Dordrecht, Niederlande, gehört. Sie seien jedoch ein nützlicher Hinweis darauf, dass eine Arbeit einer genaueren Überprüfung unterzogen werden könnte.
Laut Nature argumentieren einige Forscher, dass der Rückzug von Referenzen in einer narrativen Übersichtsarbeit – die den Forschungsstand in einem Bereich beschreibt – nicht zwangsläufig das Originalpapier ungültig macht. Wenn jedoch Studien, die in einer systematischen Übersichtsarbeit oder Meta-Analyse bewertet wurden, zurückgezogen werden, sollten die Ergebnisse dieser Übersichtsarbeit immer neu berechnet werden, um die wissenschaftliche Literatur aktuell zu halten, sagt die Epidemiologin Isabelle Boutron von der Paris City University.
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