Der Überfall am 7. Oktober der Qassam-Brigaden der Hamas und anderer palästinensischer Widerstandsgruppen vom Gaza-Streifen aus auf Israel gilt Medienberichten zufolge als besonders blutrünstig. Die palästinensischen Kämpfer sollen im israelischen Grenzgebiet an diesem Tag und danach mehr als 1000 Israelis getötet haben, darunter Teilnehmer eines Trance-Festivals nahe der Grenze.
Doch nach und nach kommen Informationen ans Tageslicht, wonach ein beträchtlicher Teil der Opfer auf das Konto der israelischen Armee IDF gehen könnten. Einige der Informationen sind bereits kurz nach dem Überfall in israelischen Medien aufgetaucht. Sie wurden aber offenbar nicht richtig wahrgenommen und auf jeden Fall von den westlichen Mainstream-Medien ignoriert.
Das Portal Electronic Intifada (EI) hat in einem Beitrag am 11. November auf die Informationen und Hinweise auf das Vorgehen des israelischen Militärs aufmerksam gemacht. Es verweist auf ein Video, das auf der Plattform X bereits millionenfach angeschaut wurde. Es soll Aufnahmen eines israelischen Kampfhubschraubers zeigen, der offensichtlich auch auf Zivilisten schiesst.
EI-Autor Ali Abunimah verweist in diesem Zusammenhang auf Aufnahmen, die die israelische Armee selbst bereits Mitte Oktober veröffentlicht hat, und «deren Bedeutung vielen damals entgangen sein dürfte». So habe die Zeitung Times of Israel am 15. Oktober über ein entsprechendes Video der Armee berichtet. Dieses zeige, wie israelische Kampfhubschrauber auf mutmassliche Hamas-Kämpfer schiessen. Auch andere Medien hätten dieses Video veröffentlicht.
Wahllose Schiesserei
«Das Armeevideo zeigt jedoch mit ziemlicher Sicherheit, dass israelische Hubschrauberpiloten auf israelische Zivilisten und möglicherweise auch auf Soldaten schiessen», so Abunimah. Er macht ebenso auf einen Beitrag aus der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth vom 15. Oktober aufmerksam. Darin würden «eindeutige Beweise» dafür vorgelegt, «dass das israelische Militär wahllos auf palästinensische Kämpfer und israelische Zivilisten gleichermassen schoss».
Das Portal hat den Artikel, der auch im israelischen Online-Magazin Ynet erschienen ist, ins Englische übersetzt und im Anhang des eigenen Beitrags veröffentlicht. Darin wird von einem Hubschraubergeschwader-Kommandeur berichtet, der am 7. Oktober den Befehl gegeben haben soll, «auf alles zu schiessen», was die Piloten am Boden im Grenzbereich sehen würden. Das habe auch für eine von Hamas-Kämpfern eroberte IDF-Basis gegolten, auf der Soldaten gefangengehalten wurden.
Der Bericht zeige, dass das kein Einzelfall war, so EI-Autor Abunimah. Die Piloten der eingesetzten 28 schweren Kampfhubscharauber vom US-Typ «Apache» hätten kaum unterscheiden können, ob sich am Boden palästinensische Kämpfer oder israelische Soldaten und Zivilisten bewegten. In dem Ynet-Bericht heisst es:
«Achtundzwanzig Kampfhubschrauber haben im Laufe des Tages die gesamte Munition in ihren Bäuchen verschossen, in erneuten Anläufen zum Aufrüsten. Wir sprechen hier von Hunderten von 30-Millimeter-Mörsern (jeder Mörser ist wie eine Handgranate) und Hellfire-Raketen. Die Häufigkeit des Beschusses von Tausenden von Terroristen war anfangs enorm, und erst ab einem bestimmten Punkt begannen die Piloten, ihre Angriffe zu verlangsamen und die Ziele sorgfältig auszuwählen.»
Unorganisiertes Militär
Dem Bericht zufolge sei die Lage am ersten Tag «völlig chaotisch» gewesen und die IDF-Aktivitäten «nicht organisiert». Die Hamas habe die israelischen Hubschrauber und Drohnen verwirren wollen, indem ihre Kämpfer sich am Boden langsam bewegten, als wären sie israelische Zivilisten. Zudem heisst es, dass einige der «Apache»-Piloten «aus eigener Initiative begannen, die Terroristen ohne Erlaubnis ihrer Vorgesetzten mit Kanonen zu beschiessen». EI-Autor Abunimah betont:
«Nach eigenem Eingeständnis des Militärs konnten die israelischen Piloten nicht klar zwischen palästinensischen Kämpfern und israelischen Zivilisten unterscheiden, entschieden sich aber trotzdem, das Feuer mit massiven Waffen zu eröffnen.»
Dem Ynet-Bericht zufolge habe die israelische Luftwaffe in den ersten Stunden der Kämpfe 300 Ziele angegriffen. Abunimah dazu:
«Die israelischen Piloten haben Hunderte von Zielen auf ihrem eigenen Territorium beschossen, ohne überhaupt ein klares Bild davon zu haben, auf wen oder was sie schossen. Mit diesem Eingeständnis wäre es nahezu unmöglich, dass das israelische Militär nicht eine grosse Zahl seiner eigenen Leute getötet hat.»
Hubschrauber und Panzer
Es scheine «sehr viel wahrscheinlicher, dass die von Israel und seinen Propagandisten verbreiteten Bilder von verbrannten Leichen – angebliche Beweise für die Gräueltaten der Hamas – von Hubschraubern stammen, die Granaten schweren Kalibers oder Hellfire-Raketen abfeuerten, und nicht von den leichten Waffen, mit denen die palästinensischen Kämpfer im Allgemeinen gesehen wurden». Auch zahlreiche Zeugenaussagen und andere Beweise, die israelische Medien in den Wochen seit dem 7. Oktober veröffentlichten, deuteten darauf hin, «dass eine grosse, wenn auch unbestimmte Zahl von Israelis am und nach dem 7. Oktober von israelischen Streitkräften getötet wurde».
Abunimah erinnert an die Aussage der israelischen Überlebenden Yasmin Porat. Sie hatte an dem Trance-Festival an der Grenze zu Gaza teilgenommen und den Hamas-Angriff am 7. Oktober im Kibuz Be’eri überlebt.
Porat hatte gegenüber einem israelischen Radiosender von schweren Angriffen durch die israelische Armee berichtet, durch die fast alle Zivilisten und viele palästinensische Kämpfer getötet worden seien. Ihren Angaben nach wurde auch mit Panzern auf die Häuser geschossen. In dem Ynet-Bericht heisst es auch, dass einer der Hubschrauber-Piloten aus einer Entfernung von nur 20 Metern auf eines der Häuser geschossen habe, in dem sich palästinensische Kämpfer und ihre israelischen Geiseln aufhielten.
«Die Mainstream-Medien und die westlichen Regierungen haben die Geschichte ignoriert und sich lieber an Israels reisserische, unbelegte und oft schlichtweg falsche Gräuelgeschichten gehalten – wie die berüchtigte Behauptung, Hamas-Kämpfer hätten Dutzende jüdischer Babys geköpft.»
Begründete Zweifel
Die gut dokumentierten palästinensischen Todeszahlen würden immer wieder zu Unrecht in Frage gestellt, so der Autor. Dagegen hätten westliche Medien und Regierungen Israels Behauptung, dass am oder kurz nach dem 7. Oktober 1400 Menschen getötet worden seien, «ohne Zweifel akzeptiert». Am Freitag korrigierte Israel die Zahl der Toten auf 1200.
Auf die begründeten Zweifel an den israelischen Angaben hatte am 2. November auch der britische Journalist Jonathan Cook aufmerksam gemacht. Das Magazin Hintergrund hat in seiner Online-Ausgabe Cooks Text auf Deutsch veröffentlicht. Darin heisst es unter anderem:
«Schon ein flüchtiger Blick auf die Trümmer in den verschiedenen Kibbuz-Gemeinden, die an diesem Tag angegriffen wurden, sollte jedem guten Reporter Fragen in den Kopf rufen. Waren militante Palästinenser tatsächlich in der Lage, mit den leichten Waffen, die sie bei sich trugen, Sachschäden in diesem Ausmass anzurichten? Und wenn nicht, wer ausser Israel war in der Lage, eine solche Verwüstung anzurichten?»
Cook kritisiert das Gros der Medien und Journalisten, das die israelischen Angaben nicht hinterfragt, und nicht mit den offensichtlichen Spuren schwerer Waffen abgleicht. Er schreibt:
«Die implizite Antwort, die die Medien geben, ist auch die Antwort, die das israelische Militär die westliche Öffentlichkeit hören lassen will. Dass die Hamas eine Orgie von grundlosem Töten und Grausamkeit veranstaltet hat, weil (...) nun, sagen wir den leisen Teil laut: weil Palästinenser von Natur aus grausam sind. Mit diesem impliziten Narrativ haben westliche Politiker einen Freibrief erhalten, Israel zuzujubeln, wenn es alle paar Minuten ein palästinensisches Kind in Gaza ermordet. Schliesslich verstehen Wilde nur die Sprache der Wilden.»
Fehlende Fragen
Auch Cook macht darauf aufmerksam, dass die israelischen Kampfhubschrauber nach dem Hamas-Überfall am Oktober anscheinend «wahllos gefeuert haben, obwohl sie die noch lebenden israelischen Soldaten in den Stützpunkten gefährdeten». Israel habe eine «Politik der verbrannten Erde» verfolgt, um die Hamas daran zu hindern, ihre Ziele zu erreichen.
«Dies mag zum Teil den hohen Anteil israelischer Soldaten unter den 1300 Toten an diesem Tag erklären.»
Die westlichen Medien seien nicht bereit, «auch nur eine einzige Frage zu den Ereignissen des 7. Oktober zu stellen». Dagegen hätten sie «jeden Schrecken an diesem Tag enthusiastisch der Hamas zugeschrieben». Sie hätten die «Tatsache des völligen Chaos, das viele Stunden lang herrschte, und das damit verbundene Risiko einer schlechten, verzweifelten und moralisch fragwürdigen Entscheidungsfindung des israelischen Militärs ignoriert».
Stattdessen werde im Westen das israelische Narrativ von der «Hamas als Wilde» verbreitet, samt falscher Gräuelgeschichten von enthaupteten Babys und nicht bewiesenen Vergewaltigungen. Cook verweist dabei darauf, dass nach dem 7. Oktober Videos aufgetaucht sind, die systematische Misshandlungen von gefangenen Hamas-Kämpfern, ob lebend oder tot, zeigen.
Sie werden zur Befriedigung von Schaulustigen in der Öffentlichkeit geschlagen und gefoltert, ohne dass auch nur der Anschein erweckt wird, dass es dabei um die Beschaffung von Informationen geht. Andere zeigen, wie die Körper von Hamas-Kämpfern geschändet und verstümmelt werden. Auch Electronic Intifada hat darüber berichtet.
«Niemand kann hier die moralische Überlegenheit für sich beanspruchen», schreibt Cook. Und:
«Das Narrativ der ‹Wilden› wird von Israel als Waffe eingesetzt, um seine wachsende Kampagne der Grausamkeiten in Gaza zu rechtfertigen. Deshalb ist es so wichtig, dass Journalisten sich nicht einfach mit diesem Löffel füttern lassen. Es steht viel zu viel auf dem Spiel.»
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