Das ist schon richtig, dass man sein Augenmerk nicht mutwillig auf das Negative richten soll. Das könnte einem unnötig Energie rauben und von Besserem ablenken, von Aufbauendem, Schönem, Zukunftsträchtigem. Nicht immer ist Darüberhinweggehen die bessere Option.
Bei dem Stuttgarter Opernstück Sancta erscheint es mir als nicht angeraten. Eine offensive und aggressive Blasphemie fordert eine Antwort. Die richtet sich nach hinten im Sinne von «Warum machen die das? Wie ist das einzuordnen?» und noch mehr nach vorne. Der Teilnehmer einer Telegram-Gruppe hatte sie kürzlich aufgeworfen: «Was machen wir mit dem Wissen um diese endzeitlichen Symptome? Was machen diese Symptome mit uns und unserer Seele?» − Ja, wie gehen wir damit um?
Die Obszönitäten dieser Aufführung muss ich hier nicht beschreiben. An den ersten beiden Abenden waren achtzehn Personen so geschockt, dass sie von Ärzten betreut werden mussten. Wer sich’s zumuten will, kann sich ja das kleine Werbe-Video zu dieser Performance anschauen. Es reicht aber bereits der Artikel im Fokus oder der Newsletter meines Kollegen Daniel Funk, um zu merken, woher Wind und Geist wehen.
Die Einordnung nach hinten ist relativ einfach. Man nehme nur zwei kleine Zitate von Karl Marx und lasse sie etwas sacken. Wie von selbst fügen sie sich in den rot-schwarzen Hintergrund jenes Exzesses ein, ja: verleihen diesen Farben ihre dämonische Tiefe:
«Es gilt so viel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, soviel an uns, einzuschmuggeln», schrieb Marx im Jahr 1843 an den Schriftsteller Arnold Ruge (aus: MEW − Marx-Engels-Werke − 27, Seite 418).
Marx sei dessen sehr gewiss,
«was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten», schrieb er im gleichen Jahr an Ruge (in: Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, MEW 1, 344ff).
Bekannt wurde diese Linie des Denkens später als kulturrevolutionärer Maoismus mit seiner, gelinde gesagt, «dekonstruktivistischen» Ausrichtung: Aufräumen mit allem Bisherigen und die so entstandene Orientierungslosigkeit als das umgepflügte Feld verstehen, das nun reif ist für − ja, wofür eigentlich?
Die Schönrednereien des Opernchefs muss man sich ebensowenig antun wie das hörige Gesäusel des Stuttgarter Stadtdekans, beides zitiert bei Boris Reitschuster. Sie bringen nicht weiter. Und dass manche Frauen ihre persönlichen Missbrauchserfahrungen in derartigen Obsessionen ausleben, ist zwar nicht neu, aber immer wieder tragisch: Der Weg vermeintlicher Erlösung kann nur allzu rasch in Gebundenheiten von metaphysischer Dimension führen.
Die wenigen Stuttgarter Aufführungen seien allesamt bereits ausverkauft, heißt es. Wer lässt sich seine Lüsternheit nicht gern hinter pseudokultureller Schminke verbergen?
Aber nun die Frage: Wie gehen wir damit um? Nähern wir uns ihr indirekt, über die Geschichte.
Der Lack der christlichen Zivilisation ist dünn. Es braucht nur wenige Kratzer, und der Hedonismus urmenschlicher Prägung kommt zum Vorschein. Ohne einem radikalen Stellungswechsel bleibt der Mensch nach Alfred Döblin das «parfümierte Wildtier».
Von einem solchen Stellungswechsel aber zeugen die Kirchenväter. Das neue Ziel hat die Christusgläubigen emanzipiert vom Wind der Meinungen und den Wehungen des Zeitgeistes. Ihre wiedergefundene Ausrichtung hat ihnen neue Maßstäbe des Guten vermittelt, beschrieben beispielweise im Philipperbrief:
Im übrigen, liebe Brüder: Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht! Philipper 4, Vers 8
Diese Maßstäbe zu wahren und zu bewähren, dazu dienten die mahnenden Worte der nordafrikanischen Bischöfe Tertullian (um das Jahr 200) und Cyprian (Mitte des 3. Jahrhunderts). Ich reihe einige davon aneinander. Jenseits eines bloßen Moralismus zeugen sie vom Ernst dieser geistig-geistlichen Abwehr eines falschen Freiheitsverständnisses.
Cyprian, 2. Brief:
Denn wenn es mit Gesetz den Männern verboten ist, weibliche Kleidung anzulegen, und wenn derartige Sünder als verflucht bezeichnet werden?, ein wieviel größeres Verbrechen ist es dann, nicht nur Weiberkleider anzuziehen, sondern auch als Lehrer einer schamlosen Kunst schimpfliche, weichliche und weibische Gebärden darzustellen!
Tertullian, Über die Schauspiele, Kapitel 17:
Wird uns nicht ebenso befohlen, jegliche Schamlosigkeit fernzuhalten? Auch hierin liegt für uns ein Verbot des Theaters, welches die Heimat und der Tummelplatz der Schamlosigkeit ist, wo nichts Beifall findet, als was sonst nirgends welchen findet. Daher setzt sich sein größter Zauber meistens aus Unflätereien zusammen.
Sogar die öffentlichen Dirnen [wie auch in Stuttgart] werden als Futter für die Ausgelassenheit des Publikums auf der Bühne produziert (…). Es sollte sich schämen der Senat, es sollten sich schämen alle Stände.
Wie sollte, was aus dem Munde ausgehend den Menschen verunreinigt, durch Augen und Ohren eingehend ihn nicht verunreinigen, da die Ohren und Augen ja Diener des Geistes sind und der, dessen Diener beschmutzt sind, niemandem sauber erscheinen kann?
Über die Schauspiele, Kapitel 20:
Sind wir denn auch außerhalb des Zirkus von der Raserei eingenommen, beschäftigen wir uns auch außerhalb der Gänge des Theaters mit Schamlosigkeit, mit übermütigem Gebaren außerhalb des Stadiums und mit Unmenschlichkeit außerhalb des Amphitheaters? (…) Nie und nirgends ist erlaubt, was immer und überall unerlaubt ist. (…) Was einmal wirklich wahr, beziehungsweise falsch ist, das kann nichts anderes sein.
Über die Schauspiele, Kapitel21:
Sie legen sich die Begriffe von Gut und Böse nach Gutdünken und Willkür zurecht, das eine Mal ist ihnen gut, was das andere Mal schlecht, und das eine Mal schlecht, was das andere Mal gut ist.
Über die Schauspiele, Kapitel 26:
Warum sollten also solche Besucher nicht auch eine Beute der Dämonen werden können? Ein Beispiel − der Herr ist Zeuge − ist vorgekommen bei einer Frau, welche das Theater besuchte und von einem Dämon ergriffen nach Hause zurückkehrte. (…) Denn niemand kann zweien Herren dienen. Was hat das Licht mit der Finsternis, was das Leben mit dem Tode zu schaffen?
Vieles gäbe es dazu jetzt zu sagen und zu interpretieren. Aber die Richtung könnte klar geworden sein: Ein Treiben wie im alten Rom, im neuen Stuttgart und andernorts lässt niemand auf sich einwirken, ohne dass er Schaden nähme. Dabei sind hier die beiden anderen Seiten noch gar nicht in den Blick gekommen: die Schauspieler selbst und die Gesellschaft als Ganze.
«Was machen wir mit dem Wissen um diese endzeitlichen Symptome? Was machen diese Symptome mit uns und unserer Seele?» hatte jener Chat-Teilnehmer gefragt.
- Wir nehmen sie zur Kenntnis.
- Wir wissen, dass sie nicht kleiner werden.
- Wir weisen auf ihre Gefahren hin.
- Wir gehen den Weg des Glaubens in heiligem Abstand.
«Irrt euch nicht: Gott lässt sich nicht spotten! Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten.» Galaterbrief 6, Vers 7
************
Mein besonderer Dank gebührt an dieser Stelle meinen beiden Freunden Ingrid und Daniel, die diese und weitere Zitate für mich zusammengetragen haben.
Wort zum Sonntag vom 13. Oktober 2024: Früchte müssen sich ausreifen
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
Kommentare