Vor allem zwei Bibelworte begleiten mich seit den unseligen C-Zeiten: «Wer die Augen verschließt, denkt verkehrt» (Sprüche 16,30) und «Wenn diese [meine Jünger] schweigen, so werden die Steine schreien» (Lukas19,40. Beide haben sich inzwischen vor aller Welt als wahr erwiesen: Die Ursachen fürs tägliche Blutvergießen werden von sesselfesten Politikern und ihren treuen Kirchenmännern (die -frauen mögen sich als mitgemeint empfinden) ausgeblendet, und das Blut auf den Pflastersteinen deutscher Innenstädte schreit zum Himmel.
Die Schalen der Beschwichtigungsfloskeln haben sich schon so weit abgewetzt, dass nur noch ihr Hohlraum übrig geblieben ist, eine Sphäre ohne Resonanz. Schonungslos offenbart sie nun die geistige und emotionale Leere ihrer Sprecher − und macht damit zugleich den Weg frei für die nächste Untat. Keine aus-gesprochene Macht stellt sich ihr in den Weg. Verschlossene Augen und Lippen führen direkt ins neue Schreien.
Diesen Mechanismus der Verdrängung beschrieb Guiseppe Gracia kürzlich in der NZZ:
«Angesichts solcher Erschütterungen der Zivilisation greift die bürgerliche Gesellschaft gern auf akademische Abstraktionen zurück, auf historische oder soziologische Untersuchungen, um sich den Abgrund vom Leib zu halten. Das Beängstigende darf nicht Teil einer Dunkelheit sein, die auch im eigenen Herzen nistet.»
Der «unfassbare Abgrund» müsse vielmehr «fassbaren Ursachen weichen» wie «Armut, soziales Unrecht, Verführung durch Rechtspopulisten. «Besonders beliebt ist die psychische Störung, die den Abgrund zu einem klinischen Problem reduziert» und die aufkeimende «Ahnung einer Hölle» im Keim ersticken hilft.
Oder das zumindest versucht. Denn allein mit humanistischen Kategorien ist dem Wahn von Automördern, Spritzentätern und Straßengröhlern nicht beizukommen; die numinose Restmenge im Schauder ruft nach einer erweiterten Deutung.
Gracia greift zurück auf die biblische Lehre vom Bösen per se − dessen «schönste[r] Trick darin besteht, euch zu überzeugen, dass er nicht existiert», zitiert er den französischen Dichter Charles Baudelaire. Aber «eine Zivilisation der Freiheit, die nicht mit dem Bösen rechnet, wird offensichtlich nicht besser oder freier, sondern verliert nur die Fähigkeit, das Böse zu erkennen», das daraufhin die «kulturelle Resilienz» nur weiter schwächt.
Also zurück zum Klumpfuß mit Schwänzchen und schelmisch-bösem Blick? Nein, denn «im wahren Leben sucht das Böse (…) den Applaus der großen Bühne». Es läßt sich feiern in Bekennerschreiben, in großspurigen Ankündigungen auf Internet-Profilen, in eitler Entrüstung organisierter Massen über Trauernde und ihre Fürsprecher, auf den Podien kriegstreiberischer Konferenzen, in religiösen Schriften, die Mörder seligsprechen.
Offene Augen für das ganze Leben und offene Ohren für die vielfältigen Schreie unserer Tage weisen zurück auf ewige Zusammenhänge. Darum:
«Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.» 1. Petrusbrief 5, Vers 8
Nüchtern sein und wachen − mit diesen Worten wird in der Bibel durchgehend zum Gebet aufgerufen, das wie nebenbei auch den eigenen Geist wieder freimacht. Die Gegenwart des Guten Geistes Gottes klärt das Denken hin zum guten Wort und hilfreichen Handeln. Ich erinnere hier an Dietrich Bonhoeffer, demzufolge die Pfarrer nicht nur Opfer von Attentaten beerdigen oder trösten dürften, sondern sie aktiv verhindern müssen durch ihren Protest und ihr Engagement nach außen.
Die Wege des Bösen in unserer Zeit verstehen ist das eine; das andere ist, Täter und ihre hohlen Helfershelfer mutig benennen, mahnen, ihnen wehren. Liebe ist auch ein Nein.
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Wort zum Sonntag vom 9. Februar 2025: Schatten verscheuchen
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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