In Zeiten wachsender internationaler Verflechtung rückt eine Grundfrage der Schweizer Demokratie wieder ins Zentrum: Wer entscheidet über internationale Verträge – das Volk oder das Parlament? Das sogenannte Staatsvertragsreferendum ist das zentrale Instrument, das der Bevölkerung Mitspracherecht bei völkerrechtlichen Abkommen gibt. Doch das bestehende System ist laut Kritikern lückenhaft. Die 2024 lancierte Kompass-Initiative will das ändern.
Das Staatsvertragsreferendum wurde 1977 eingeführt. Ziel war es, das demokratische Gleichgewicht auch bei völkerrechtlichen Verträgen zu sichern. Bis dahin hatte das Parlament praktisch freie Hand. Seither gibt es zwei Formen des Referendums:
- Obligatorisches Staatsvertragsreferendum:
Greift bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine Verfassungsänderung bedingen, etwa bei einem Beitritt zu supranationalen Organisationen wie der EU oder NATO. In solchen Fällen braucht es zwingend die Zustimmung von Volk und Ständen (Ständemehr = Mehrheit der Stimmenden UND Mehrheit der Kantone). - Fakultatives Staatsvertragsreferendum:
Gilt für besonders gewichtige, aber nicht verfassungsändernde Verträge – etwa unkündbare oder gesetzesprägende Abkommen. Hier ist ein Referendum möglich, aber nicht automatisch – es braucht 50.000 Unterschriften in 100 Tagen oder acht Kantone. Dann muss über die Vorlage an der Urne befunden werden. Ein Ständemehr ist nicht nötig.
Einige der wichtigsten außenpolitischen Weichenstellungen der letzten Jahrzehnte wurden nicht automatisch vor das Volk gebracht – oder nur auf Umwegen:
- EWR-Abstimmung (1992): Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum wäre nicht zwingend referendumsfähig gewesen, wurde aber aufgrund der Tragweite vom Bundesrat freiwillig dem Volk vorgelegt – und knapp abgelehnt (50,3 Prozent Neinstimmen). Bei der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 wurde auch ein Ständemehr verlangt – und zwar freiwillig, obwohl es verfassungsrechtlich nicht zwingend vorgeschrieben gewesen wäre.
- Bilaterale I und II (1999/2004): Enthielten weitreichende Verträge mit der EU, etwa zur Personenfreizügigkeit. Auch hier kein obligatorisches Referendum – das Volk stimmte nur über Teilbereiche im Rahmen des fakultativen Referendums ab.
- Schengen/Dublin (2005): Weil das Abkommen dynamische Rechtsübernahme vorsah, wurde es zum Referendumsgegenstand – nicht automatisch, sondern weil das Referendum ergriffen wurde. Die Vorlage wurde mit 54,6 Prozent Jastimmen angenommen.
Die 2024 lancierte Kompassinitiative will das Staatsvertragsreferendum ausweiten – insbesondere bei Abkommen mit:
- dynamischer Rechtsübernahme, also automatischer Übernahme von fremdem (meist EU-)Recht,
- fremden Entscheidungsinstanzen wie ausländischen Gerichten oder Behörden,
- weitreichenden gesetzesähnlichen Wirkungen ohne direkte Mitsprache des Parlaments.
Neu sollen solche Verträge zwingend dem obligatorischen Referendum unterstehen – selbst wenn keine formelle Verfassungsänderung nötig ist. Die Initiative will sicherstellen, dass nicht durch die Hintertür EU-Recht eingeführt wird, ohne dass Volk und Stände mitentscheiden.
Von den viel weitreichenderen WHO-Verträgen (siehe hier) reden die Initianten aber nicht. Obsiegt die Initiative und tritt der Verfassungstext in Kraft, dann haben die WHO-Verträge längst Gesetzeskraft erlangt. Gegen die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) und den Pandemievertrag hilft also die Kompass-Initiative nicht.
Gleichzeitig hat der Bundesrat, die Schweizer Landesregierung, unter dem Titel Bilaterale III (Details hier, weitere Links im Beitrag) neue Verträge mit der EU ausgehandelt. Geplant sind nebst der Dynamisierung von fünf bestehenden Abkommen Verträge in den Bereichen Strom, Forschung, Gesundheit, Lebensmittelsicherheit und weitere Kooperationen. Auch hier ist eine dynamische Rechtsübernahme vorgesehen – jedoch ohne direkte Entscheidungsgewalt des Europäischen Gerichtshofs, sondern mit einer gemeinsamen Streitschlichtung.
Trotz der Reichweite der geplanten Abkommen sieht der Bundesrat kein obligatorisches Referendum vor. Wie bei Schengen soll ein fakultatives Referendum möglich sein – sofern es zustande kommt.
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