«Für jede komplexe Fragestellung gibt es eine einfache,
plausible – und falsche – Antwort.»
– H. L. Mencken, US-amerikanischer Journalist
Liebe Leserinnen und Leser
Ich ging 1990 nach England, um an einer Universität eine vergleichende wissenschaftliche Arbeit über die Haltung zur europäischen Integration der Schweiz und Großbritanniens zu schreiben. Ich begann bei den Erfahrungen aus der Kriegszeit, bei Churchills Zürcher Rede und beim Versuch der Schweiz, in der Nachkriegszeit diplomatisch wieder Fuß zu fassen.
Ich erhielt sehr schnell praktischen Anschauungsunterricht. Meine Studiengebühren betrugen etwa das Zehnfache von denen von Studenten aus EU-Ländern. Im Gegensatz zu diesen durfte ich auch nicht arbeiten – nicht einmal unentgeltlich. Und ich musste jeden Zimmerwechsel, auch wenn ich nur einen Stock höher zog (im konkreten Fall: mit meiner Freundin und heutigen Ehefrau zusammen ein Zimmer bezog), der Polizei melden, was EU-Studenten nicht mussten.
Heute ist es anders. Die Schweiz hat es geschafft, durch bilaterale Verträge einen Status zu erlangen, der dazu führt, dass man im täglichen Leben gar nicht merkt, dass wir in der Schweiz kein EU-Land sind. Wir sind weitgehend in den Binnenmarkt integriert, sind Mitglied des Schengen-Raums und auch der Studien- und Forschungsaustausch funktioniert wieder.
Diese Errungenschaften nehmen wir praktisch als selbstverständlich an. Wir gehen davon aus, dass, wenn wir an der Urne die nun ausverhandelte, neue Serie von bilateralen Verträgen ablehnen, alles beim Alten bleibt. Das mag in Bezug auf die neuen Abkommen – zum Beispiel Strom und Gesundheit – stimmen. Bei diesen Abkommen bin ich mir auch noch nicht sicher, ob sie wirklich gut sind für unser Land.
Aber die Schweiz liegt geopolitisch inmitten von EU-Ländern. Eine Verständigung mit diesen und mit der EU tut Not. Ausgehandelt ist nebst den neuen Verträgen auch die Weiterentwicklung von fünf bilateralen Marktzugangsabkommen (ich habe hier, hier, hier und hier darüber berichtet). Im Gegensatz zu den WHO-Verträgen, die in den Leitmedien kein Thema sind, werden die Bilateralen III intensiv und sehr kontrovers diskutiert und das, obwohl sie viel weniger in die Entscheidungsgewalt der Schweiz eingreifen als die Vertragswerke mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Wörter «Knebelungsvertrag» oder «Unterwerfungsvertrag» werden für die EU-Verträge reserviert, nicht für die WHO-Verträge, auf die sie eigentlich zuträfen.
Die sogenannte Kompassinitiative – lanciert von einer Gruppe von sich bodenständig gebenden Superreichen – ist so formuliert, dass sie die Hürde für die EU-Verträge erhöht, aber in Bezug auf die WHO-Verträge alle Kompetenzen beim Bundesrat – der Schweizer Landesregierung – oder dem Parlament belässt. Es ist offensichtlich, dass es den Initianten nicht darum geht, die Schweizer Demokratie zu stärken, sondern den Verträgen mit der EU ein Bein zu stellen. Sie ist deshalb die falsche Antwort auf eine komplexe Fragestellung (siehe Eingangszitat).
Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass alles beim Alten bliebe, wenn die Weiterentwicklung der fünf Marktzugangsabkommen abgelehnt würde. Diese Abkommen sind statisch und erodieren, wenn sie nicht weiterentwickelt werden. Das wird man früher oder später im Alltag merken – mit umgekehrtem Vorzeichen, etwa so, wie ich das in England Anfang der 90er Jahre fühlte. Es würde quasi zu einem «CH-xit» oder «Schwexit» kommen.
Die Entwicklungen nach dem Brexit sollten uns eine Warnung sein. Heute ist die Situation umgekehrt: Die Schweiz ist durch Verträge gut in Europa integriert und fühlt nicht, dass sie kein EU-Mitglied ist, während Großbritannien draußen ist – und das im Alltagsleben sehr stark fühlt. Ich habe hier darüber berichtet, dass sich die Hoffnungen, die die Britinnen und Briten in den Brexit gesetzt hatten, allesamt zerschlugen. Die Einwanderung ist beispielsweise doppelt so hoch wie vor dem Brexit und die Migranten kommen aus weiter entfernteren und kulturell viel weniger kompatiblen Ländern. Und in der EU, dem EWR und der Schweiz geht es den Briten etwa so wie mir vor 35 Jahren in England.
Wir sollten all das bedenken, bevor wir unreflektiert über die Bilateralen III herziehen.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen.
Daniel Funk
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